Psychologische Ethik (S. 210-234)
Alferd Schöpf
[aus: Geschichte der neueren Ethik, Band 2]
Ontogenese und Phylogenese der Moral
(In der Entwicklungspsychologie versteht man unter
'Ontogenese' die individuelle
(psychische) Entwicklung. In der Biologie ist der Gegenbegriff 'Phylogenese';
das ist die Geschichte des Stammes alles
Lebenden und dessen Verzweigungen.)
Man kann auf zwei Weisen nach dem Grund des moralischen
Denkens fragen. Die Psychologie tut dies genealogisch, das heißt, sie fragt
nach der Entstehungsgeschichte. Die Philosophie dagegen will die Frage der
Begründung moralischer Urteile als Geltungsfrage (quid iuris) von der Frage
nach ihrer Entstehung (quid facti) trennen. Die 'quaestio facti' betrifft nur
die Art, wie eine Erkenntnis tatsächlich erworben wird. Ihr stellt der
Kritizismus die 'quaestio juris', d. i. die Frage nach der transzendentalen
Befugnis eines Begriffes nach seinem Rechtsanpruch entgegen.
An dieser Schnittstelle sieht man in der Philosophie die
Gefahr des Psychologismus gegeben: Wären die Kriterien und Begründungen von
moralischen Entscheidungen auf seelisches Erleben und Einzelschicksale
zurückzuführen, würde dies moralische Urteile bedingt und wandelbar machen.
Dies würde einem transzendental-logischen Begründungsideal nicht genügen.
Es ist deshalb wichtig festzuhalten, dass die Psychologie
als empirische Wissenschaft sich nur mit der faktischen Art des Entstehens von
moralischen Überzeugungen beschäftigt.
Die Psychologische Ethik ist insofern von der Philosophie abhängig, als dass
ihre Begründungsverfahren (nämlich die moralischen Bedingungen der
psychosozialen Welt zu rekonstruieren) von dem abhängen, was als Maßstab der
Obligationen und ihrer strukturellen Integration in einer moralischen
Persönlichkeit zugrunde gelegt wird. Hier sind Rechtfertigungsverfahren einer
Philosophischen Ethik vorausgesetzt, insofern ist die Psychologische Ethik
keine autarke, geschlossene Disziplin.
Das Gebiet der faktischen Entstehungsgeschichte moralischer
Überzeugungen und gliedert sich in drei Teilbereiche, von denen einer der
Ontogenese und zwei der Phylogenese angehören:
Ontogenese
(betrifft das Entstehen moralischer
Überzeugungen eines Individuums)
|
Phylogenese
(betrifft das Entstehen moralischer
Überzeugungen als Prozess innerhalb der Menschengattung)
|
|
betrifft das Entstehen
moral. Überzg. als Prozess der Menschengattung
|
betrifft das Entstehen
moral. Überzg. als Prozess der Evolution
|
Aufgabe d.
Entwicklungspsychologie
|
Aufgabe d.
Gesellschaftswissenschaften
|
Aufgabe d. Biologie
|
Davon klar abzutrennen ist die Philosophie, der die Aufgabe
der Rechtfertigung von Maßstäben zufällt. Es ist jedoch fragwürdig, ob die
Wahrheit eines moralischen Urteils ausschließlich durch formale Prozeduren der
Rechtfertigung aus Vernunftgründen zu erweisen ist, oder ob sie sich auch in
seiner Entstehungsgeschichte zeigt.
Bei den Anstrengungen, die unternommen werden, um die
formale Richtigkeit eines moralischen Urteils nachzuweisen werden für
gewöhnlich 2 Schritte angewendet. Zum Einen wird aus dem Erleben einer
Handlungssituation eine Handlungsregel/-maxime herausgelöst, zum Anderen nimmt
man in einem Universalisierungsverfahren den Standpunkt eines allgemeinen
Subjektes ein (im Gegensatz zu einem historisch bestimmten Subjekt mit
propositionalen und volitionalen Gehalten). Durch diese Maßnahmen versucht man
zu erreichen, dass die so gefundenen Maximen für jedermann jederzeit gelten
können.
Jedoch sind für die Wahrheit eines moralischen Urteils in
konkreten Entscheidungssituationen möglicherweise noch andere Bedingungen von
Relevanz. So benötigt der Mensch für seine Entscheidung laut J. Rawls zum
Beispiel eine inhaltlich moralische Überzeugung, die der formalen voraus gehen
muss. Diese nennt Rawls "wohl überlegte Urteile". Nach Aristoteles
benötigt ein Subjekt zum moralisch korrekten Handeln auch sittliches Verständnis,
um die Bedingungen einer Situation angemessen erfassen zu können. Diese
Erfahrungsgrundlage des Moralischen gilt es, näher zu beleuchten:
Unter welchen Bedingungen externer und interner Art kommt moralische Erfahrung
zustande?
Wie beschaffen muss die kognitive Grundlage unseres Urteilens sein, damit eine
Persönlichkeit moralisch ist?
Moralpsychologie und psychologische Ethik
Die psychologische Ethik beschäftigt sich mit der inhaltlichen Begründung der
Entstehung des Sollens und der moralischen Identität als Voraussetzung für
formale Rechtfertigungsverfahren. Die Moralpsychologie hat zwei große
Themenbereiche:
1.) Inhaltliche Frage: Wie kann der Mensch moralisches
Sollen erkennen und fühlen? Welches sind
die
Entstehungsbedingungen?
2.) Strukturelle Frage: Ist das Erfassen moralischer
Probleme als Kompetenz bereits angeboren?
Müssen bestimmte
Bedingungen erst sein Entstehen ermöglichen? Welches Niveau von
Gefühlsdifferenzierung ist Voraussetzung für eine moralische Identität?
Die moralische Entwicklung als Gebiet der
Entwicklungspsychologie ist in drei einflussreichen Richtungen zum Thema
geworden.
1.) In der genetischen Theorie der Genfer Schule Jean Piagets mit Nachfolgern
bei Lawrence Kohlberg, auslaufend in neueren Theorien des Perspektivwechsels
und der sozialen Kognition.
2.) In der behavioristischen Tradition in ihrer
radikal-reduktionistischen Form bei B.F. Skinner, die in die kognitiv
orientierte Verhaltenspsychologie einmündet.
3.) In der Psychoanalyse bereits bei Sigmund Freud &
weiteren Entwicklungen der Ichpsychologie.
Jean Piaget: Die Entwicklung des moralischen Urteils
Piagets genetische Schule beschäftigt sich mit moralischen
Phänomenen, die er exemplarisch in Kinderspielen studiert. Dazu legt er den
Kindern moralisch relevante Spielsituationen vor und befragt sie zu deren Vorstellungen im Hinblick auf
Fairness im Spiel, angebrachte Strafen etc.
Wenn die psychologische Persönlichkeit in fünf Systeme
eingeteilt wird, nämlich Wahrnehmung, Denken, Bedürfnisse und Triebe,
Emotionen, sowie Handlungen, dann ist Piaget vorrangig mit dem Zusammenhang
zwischen Wahrnehmung-Denken-Handlung befasst. Es ergibt sich, dass die Systeme
Emotionen, sowie Handlungen und Triebe methodisch ausgeklammert werden.
Es ist zum genaueren Verständnis anzumerken, dass Piaget
hauptsächlich Jungenspiele analysierte, gebräuchliche Spiele verwendete und
nicht die tatsächliche Spielsituation betrachtete; für die Tragweite seiner
Theorie ist außerdem eine Erklärung seiner sechs Grundannahmen nötig:
1. Operatives Denken
Im Zentrum steht der Begriff des Denkens, dem Piaget operativ auffasst, d.h.
als eine Art "in der Vorstellung handeln" oder Probehandeln.
2. Interaktionelles Denken
Das Denken steht in einem wechselseitigen Austauschprozess
mit der Umwelt. Zum Einen muss sich der Organismus der Welt anpassen
(Akkommodation) und zum Anderen passt er die Welt sich an (Assimilation).
3. Äquilibration
Die Austauschprozesse tendieren zu einem Gleichgewicht hin.
Sie sind unter dem Gesichspunkt der Entwicklung zur Äquilibration hin zu
erforschen.
4. Intelligenzpsychologie
Das Denken ist nur Teil von wesentlich allgemeineren
Austauschprozessen mit der Umwelt. Alle Gleichgewichtslagen, die Organismen
herstellen können, bezeichnet Piaget als intelligent. Intelligenz wird hier zu
einem transitorischen Begriff, der die Felder der Biologie mit denen der
Psychologie/Soziologie und der Logik verbindet.
5. Äquilibration = optimal
Anzustreben ist eine Gleichgewichtsform nahe einer
mathematischen Gleichung, die in einer vollendeten Austauschbeziehung steht.
6. schème und structure
Piaget führt zwei Begriffe ein, 1.) das Handlungsschema
(schème), 2.) die Handlungsstruktur (structure). Mit schème ist die
Koordination von Handlungsabläufen und ihre Zusammenfassung zu einer Form
gemeint. Davon unterschieden ist structure das allgemeinene Intelligenz- oder
Handlungsniveau, auf dem diese Schemata angesiedelt sind.
Die prämoralische Strukur des Motorischen
Piaget unterscheidet eine vormoralische Phase der kindlichen
Entwicklung von der moralischen.
Die vormoralische Phase nennt Piaget die 'sensu-motorische
Phase', in ihr nimmt das Kind über die Sinne Reize auf und reagiert motorisch.
Dem Aufgenommenen entsprechen noch keine Vorstellungsbilder, aber die
Handlungsschemata werden komplexer.
In der folgenden Phase entwickelt das Kind
symbolisches/anschauliches Denken.
Zwischen diesen beiden Phasen weist das Kind eine
Regelmäßigkeit im Handeln auf, aber es ist nicht in der Lage, die Regeln
einzusehen. Es probiert sich im Handeln aus ohne nachzuahmen - Nachahmung ist
aber eine Voraussetzung für Sozialcharakter einer Handlung, ohne diesen kann es
auch keine Frage nach Anerkennung der eigenen Handlung und keine
Sollens-Verpflichtung geben.
Regelerkenntnis
In der prämoralischen Phase weist das Kind motorische
Regelmäßigkeit auf, kann aber keine Regeln selbst einsehen. Diese structure
herrscht vom ersten Lebensjahr an bis zum Grundschulalter vor. Drei Punkte
markieren die prämoralische Phase, die egozentrische Perspektive, der moralische Realismus und der Zwang der
Erwachsenen.
-Die egozentrische Perspektive besagt, dass das Kind intelligenzmäßig noch
nicht in der Lage ist,
seine Perspektive zu
dezentrieren, d.h. sich in andere hinein zu versetzen.
-Der moralische Realismus des Kindes bedeutet, dass es Handlungen danach
beurteilt, was sie als
Folgen in der
Sichtweise der Eltern nach sich ziehen. Das Gut-Sein einer Handlung wird nicht
von
der Absicht abhängig
gemacht, sondern von ihrem materiellen Resultat.
-Der Zwang der Eltern wirkt hier regulierend auf das Kind,
das noch keine Regeln selbst einsehen
kann.
Die Voraussetzungen für den Übergang von der prämoralischen
structure zur Einsicht in eine Regel sind dreierlei:
1) Fähigkeit zur Nachahmung
(Erwachen einer spezifisch sozialen
Wahrnehmung, probeweises Einnehmen einer anderen
Perspektive)
2) Fähigkeit zu spielen
(soziale Wahrnehmungen können so
verarbeitet werden, dass das Kind sie symbolisch
ausdrücken kann
und ihnen eigene Bedeutung zulegt)
3) Innere Vorstellungsbilder
(Um sich
symbolisch ausdrücken zu können, benötigt das Kind eine eigene
Vorstellungswelt)
In dieser Übergangsphase hin zur Regeleinsicht kann das Kind
verpflichtende Regeln erfassen und sie befolgen; Piaget nennt sie deshalb eine
einseitige Achtungsphase, die durch die elterlichen Ansprüche getragen wird.
Weiterhin bezeichnet Piaget diese Moral als heteronom, weil sie sich am
Handlungserfolg (Lob/Strafe) orientiert.
Eine Wende tritt für Piaget mit dem Lebensalter von sieben
auf acht Jahre ein. Es entsteht eine Wandlung des Maßstab des
Sich-Verpflichtet-Fühlens von der Verpflichtung gegenüber äußeren Forderungen
zu einer Verpflichtung gegenüber sich selbst.
Den Entwicklungsfortschritt kontrastiert er mit der prämoralischen structure:
egozentristische Perspektive
|
Fähigkeit die eigene Perspektive zu dezentrieren
|
moralischer Realismus
|
Ablösung von elterlichen Zwang hin zu einer
unabhängigen Sichtweise moralischer Probleme
|
Lob/Strafe
|
Orientieren an der inneren Absicht
|
Insgesamt durchläuft die moralische Entwicklung des Kindes
nach Piaget vier Stadien, wobei das vierte Stadium mit dem 10.-12. Lebensjahr
erreicht wird:
1) Regel ohne das Bewusstsein moralischer Verpflichtung
2) Regel mit Verpflichtung gegenüber der Autorität
3) Regel auf Verpflichtung zur wechselseitigen
Zusammenarbeit
4) Regel aufgrund der Verpflichtung zur wechselseitigen
Zusammenarbeit
Im vierten Stadium wird das Regelbewusstsein reflex und
sucht nach verbindlichen Gesetzen zur Regelbegründung. Das Endziel der moralischen
Entwicklung stellt sich für Piaget als Autonomie und Zusammenarbeit bei
wechselseitiger Achtung dar. Moral hängt für ihn also am sozialen Faktum der
Interaktion zwischen Menschen ab.
Weiterentwicklungen
Lawrence Kohlberg rückte den Fokus der Moralentwicklungsforschung
noch mehr ins Abstrakte, da sie sich nicht mehr für die Strukturen des
moralischen Urteils, sondern für dessen Begründung interessierte. Er behauptet
mit seinem Stufenmodell sowohl Kinder als auch Erwachsene invariant aus allen
Kulturen erfassen zu können. Mit seinem Ebenenschema stieß er auf Kontroversen, die einmal die
hierarchisch aufgebaute Stufenfolge, aber auch die Orientierung an westlichen
Kulturen, die Favorisierung männlicher Erlebenswelten und die empirische
Nachprüfbarkeit der Existenz der Stufen 5 und 6 betreffen.
[IN BEARBEITUNG]