Samstag, 26. Januar 2013

Kritik an Gilligans Theorie



Kritik an Gilligans Theorie


  • Fehlerquelle: Cis-Sexismus, Biologismus, fehlende Klärung des Begriffes "Frau":


Carol Gilligan klärt nicht, was genau sie unter dem Begriff "Frau" versteht, den sie zur Einteilung ihrer Probandinnen verwendet. Einige von Gilligans Aussagen lassen darauf schließen, dass sie unter Frauen nur diejenigen weiblich gelesenen Personen fasst, die über eine Vagina verfügen (siehe Abtreibungsstudie). Hinsichtlich der Selbstidentifikation mit dem zugewiesenen Geschlecht macht Gilligan ebensowenig Angaben wie über Menschen, die sich außerhalb der Geschlechterbinärität verorten.

Teil ihrer systematischen Forschung zur moralischen Orientierung ist neben zwei weiteren Punkten die Frage:"Besteht ein Zusammenhang zwischen moralischer Orientierung und Geschlecht?" (Moralische Orientierung und moralische Entwicklung, Seite 88, Punkt 3). Hier spricht Gilligan in der englischen Originalausgabe von "gender", nicht von "sex" – eine wichtige Unterscheidung. Der Begriff Gender bezeichnet zum einen die soziale Geschlechterrolle (engl. gender role) beziehungsweise die sozialen Geschlechtsmerkmale. Er bezeichnet also alles, was in einer Kultur als typisch für ein bestimmtes Geschlecht angesehen wird (zum Beispiel Kleidung, Beruf und so weiter); er verweist nicht unmittelbar auf die körperlichen Geschlechtsmerkmale (sex). 

An dieser Stelle besteht die Gefahr, moralisches Empfinden mit dem biologischen Geschlecht zu verknüpfen, was bedeuten würde, dass moralisches Verhalten durch Hormone oder eine andere Körpereigenheit beeinflussbar wäre. Leider gelingt es Gilligan nicht, die Begriffe sauber zu trennen: In ihrer Einführung in Die andere Stimme stellt sie zwar einerseits fest, dass die andere Stimme nicht an ein Geschlecht gebunden sei und ihre Zuschreibung zu Frauen ein rein empirischer Sachverhalt sei (S.10), jedoch führt sie noch auf derselben Seite an, dass Geschlechterunterschiede durch sozialen Status und aufgrund von biologischen Gegebenheiten entstehen.

"Man wird nicht als Frau geboren, man wird dazu gemacht", schrieb Simone de Beauvoir 1949 und legte damit den Grundstein für die moderne Konzeption der Geschlechter. Die feministische Geschlechterforschung hat gezeigt, wie Geschlecht als eine soziale Konstruktion etabliert wird, als ein künstliches Konglomerat von Körperbildern, Rollenvorschriften, Bedeutungen, Wertigkeiten, Rechten und Pflichten. Zum sozial konstruierten Geschlecht gehört auch dessen Naturalisierung, also die künstlich hergestellte Überzeugung dass die Geschlechter natürlich und biologischen Ursprungs sind.

Als prominenteste Vertreterin der post-modernen Geschlechtertheorie gilt wohl die amerikanische Philosophin Judith Butler. Um die soziale Produktion von Geschlecht zu erklären, hat Butler den Begriff der "Performanz" geprägt. Performanz ist die Darstellung von Geschlecht, und zwar nicht als Ausdruck eines inneren Geschlechterkerns, sondern umgekehrt, als ritualisierte Wiederholung von Verhaltensvorschriften, welche auf die Dauer die Illusion einer Geschlechtsidentität erzeugt.

Butler bestreitet die Existenz einer essentiellen, dh. von Geburt an und natürlich gegebenen Geschlechtsidentität, welche sich in den Handlungen, Gesten und Sprache der Menschen, je nach Mann oder Frau unterschiedlich, ausdrückt. Vielmehr beschreibt sie, wie als allererstes bei der Geburt des Kindes seine Geschlechtszugehörigkeit durch die logische Zuordnung zu einer der beiden Geschlechtskategorien anhand seines anatomischen Geschlechts initiiert wird: "Ist es ein Junge oder ein Mädchen?", der Blick zwischen die Beine liefert die Antwort. Im Verlaufe des Lebens wird das Gefühl der Geschlechtszugehörigigkeit durch ritualisierte Wiederholung von Konventionen erzeugt. Die fortdauernde Performanz der Geschlechtszugehörigkeit, auch "doing gender" genannt, erzeugt rückwirkend die Illusion einer natürlich gegebenen Geschlechtsidentität als Mann oder Frau.

Insofern wäre es wünschenswert, wenn Gilligan klarer Stellung beziehen, ihren Begriff von "Gender" erläutern und auf seine biologistischen Wurzeln überprüfen würde. In der Sozialisation hin zu einer Geschlechtsperformanz stecken möglicherweise wichtige Hinweise zur Erklärung der Häufigkeit der Care-Ethik bei Frauen, die sich Gilligan aus diesem Grund verschließen. Es darf angenommen werden, dass die Fürsorgemoral eine Rollenmoral ist, die an gruppen- und kulturspezifischen Normierungen geknüpft ist. Stattdessen bemüht sie, wenn auch nur für den Kontrast, Nancy Chodorows idealisierte Mutterrolle von angeborener Selbstaufgabe, die in den Zeiten von Vaterschaftsurlaub der Vergangenheit kritisch hinterfragt und dekonstruiert werden sollte.


  • Gefahrenquelle: Nicht replizierbare Ergebnisse & Interpretation statt wissenschaftlicher Aufbereitung:

Neben den von Debra Nails  und Lawrence Walker aufgezeigten Mängeln ist noch Gertrud Nunner-Winkler anzuführen, die in "Weibliche Moral" zwei ungünstige Implikationen aus Gilligans Werk extrahiert:
(Nails und Walkers Positionen sind zu finden in "Sozialwissenschaftlicher Sexismus: Carol Gilligans Fehlvermessung des Menschen" bzw. "Geschlechtsunterschiede in der Entwicklung")

1) Vorfindliche moralische Orientierung ließe sich auf eine Zweiertypologie reduzieren
2) Es gäbe einen universellen Entwicklungsmechanismus, der die Verknüpfung von  
    Geschlechtszugehörigkeit und Moralorientierung erklärt.

In einer Längsschnittstudie von Nunner-Winkler und Weinert aus dem Jahr 1998, bei der 200 Kinder unterschiedlicher Schichtherkunft zu einer Geschichte befragt wurden, in der der Protagonist ein Bedürfnis befriedigt und dazu eine Norm übertritt, ergab sich Folgendes:

  •  Schon ab 4 Jahren wissen fast alle Kinder (98%), dass es falsch ist, zu stehlen

  • Die Begründung dieses Urteils war bei beiden Geschlechtern gleich, auch die Mädchen begründeten die Verwerflichkeit des Diebstahls mit Regelgeltung – die Optionen waren Sanktion Opferorientierung, Regelgeltung und Bewertung.


In einer weiteren Studie befragte sie männliche und weibliche Jugendliche zu ihrer Einstellung zu Schwangerschaftsabbrüchen – hier konnte Gilligans These der Beziehungsethik von Frauen bestätigt werden. Allerdings drehte sich bei einer Befragung zur Wehrdienstverweigerung das Antwortschema um. Die Vermutung liegt nahe, dass nicht die Geschlechtszugehörigkeit, sondern die Betroffenheit über die Urteilsbildung entscheidet.


Weiterführende Literatur:
Butler, Judith. Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt Am Main: Suhrkamp, 2011. Print.
Nunner-Winkler, G. (1998) Zum Verständnis von Moral – Entwicklungen in der Kindheit. In: F.E. Weinert (Hrsg.), Entwicklung im Kindesalter. Weinheim: Beltz, Psychologische Verlags Union, S. 133.152.
Beauvoir, Simone De. Das andere Geschlecht: Sitte und Sexus der Frau. Stuttgart: Dt. Bücherbund, 1983. Print.

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