Donnerstag, 7. Februar 2013

Carol Gilligan and the History of Ethics

Carol Gilligan and the History of Ethics
in: Essays on the History of Ethics - Michael Slote, S. 150-161

Slote fasst Gilligans Buch In a Different Voice als Richtigstellung einer Voreingenommenheit in der Forschung auf. Demnach sei unter anderem durch Kohlbergs und Piagets Studien impliziert worden, dass Frauen den Männern moralisch unterlegen seien. Gilligan bemerke richtig, dass Entwicklungsmodelle, die allein auf Studien an männlichen Probanden basieren, lediglich feststellen können, dass Frauen anders - jedoch nicht schlechter - moralisch denken und urteilen als Männer.

Trotz den Zweifeln an der empirischen Validität von Gilligans Studien hebt Slote hervor, dass Gilligans Buch die Bekanntheit der Care-Ethik befördert und den Anstoß zu weiteren Publikationen auf diesem Gebiet gegeben hat. Darüber hinaus habe Gilligan selbst ihre Behauptungen zu den Unterschieden zwischen Männern und Frauen revidiert und die Bedeutung der Care-Ethik unabhängig von Geschlechterunterschieden betont. Als kontemporäre Werke zur Care-Ethik zählt Slote Sara Ruddicks Maternal Thinking und Lawrance Blums Friendship, Altruism and Morality, die beide 1980 erschienen sind, sowie Nel Noddings Caring: A Feminine Approach to Ethics and Moral Education, welches 2 Jahre nach Voice erschien und explizit versuchte, eine Fürsorgeethik zu entwickeln.

Außerdem sieht Slote eine weitere wichtige Auswirkung von Gilligans Werk auf dem Gebiet der Philosophiegeschichte. Wenn die Voreingenommenheit der Untersuchenden bis jetzt für einen unbegründeten Ausschluss der Frauen gesorgt habe, müssen nun entsprechende Werke anders bewertet werden.

Gilligans Beharren auf dem Dualismus zwischen rationalistischem Liberalismus (Vertreter: Kant, Rawls, Dworkin, Nagel, Scanlon) und der Care-Ethik wirft für Slote die Frage auf, wo in dieser Kluft der utilitaristische Konsequentialismus oder die (neo-aristotelische) Tugendethik anzusiedeln seien. Gilligans Umstrukturierung der normativen Ethik sorge so für eine Re-evaluation bisher angenommener Hierarchien bzw. Gleichstellung bestimmter Strömungen der normativen Ethik. Anders als Kohlberg scheint Gilligan allerdings von einer Gleichberechtigung der von ihr als am wichtigsten empfundenen Stimmen auszugehen und die unterschiedlichen Sichtweisen
Slote weist darauf hin, dass die Care-Ethik historisch im moralischen Sentimentalismus des achtzehnten Jahrhunderts (Vertreter: Hume, Hutcheson) verwurzelt ist und auch dem christlichen Agapismus Rechnung zu tragen hat.

Slote geht im Folgenden auf Nancy Chodorows Werk The Reproduction of Mothering ein, die den von Gilligan aufgeworfenen Dualismus von Getrenntheit/Autonomie und Bindung/Verantwortung auf seine Wurzeln in der Kindheit untersucht. Chodorows Ansicht nach schätzen Männer Getrenntheit mehr als Frauen, da sie sich in ihrer Kindheit, um ihre Geschlechtsidentität ausbilden zu können, von ihrer Mutter (primary care giver) lösen müssen. Frauen hingegen müssten aus der Bindung zu ihrer Mutter nicht austreten.

Die Kluft zwischen Bindung und Getrenntheit kann nach Slote aber auch unabhängig von Geschlechterunterschieden untersucht werden, was er in seinem Buch The Ethics of Care versucht. Ankerpunkt seiner Erläuterungen ist die Stadt Skokie in Illinois, in der sich einige Holocaustüberlebende angesiedelt haben. Kantische Liberalisten hätten unter der Berufung auf das Versammlungsrecht und die freie Meinungsäußerung dafür argumentiert, einen Naziaufmarsch in diesem Ort zu erlauben. Dagegen sei den Care-Ethikern der Wert der Verbindung und Fürsorge wichtiger als Autonomierechte gegen andere. Die Care-Ethiker hatten im Blick, dass ein Naziaufmarsch die Überlebenden retraumatisieren und verletzen könne, auf Seiten der Liberalisten sei dagegen die Gefahr für die Überlebenden ignoriert und der Fokus auf die Konsequenzen eines Verbotes gelenkt worden - obwohl Skokie von den Nazis mit Hinblick auf dessen Bevölkerung und die durchschlagende Wirkung eines Aufmarsch ausgewählt worden war.

Diese unterschiedlichen Ansichten sind Slotes Ansicht nach in einer unterschiedlichen Bewertung von Getrenntheit/Bindung zu suchen, welche schon in der Kindheit ausgebildet werden. Er nimmt eine psychologische Ursache für die Tendenz zu einer der beiden Stimmen an. Da sowohl im Konsequentialismus als auch in der aristotelischen Tugendethik dieses Wertungsproblem nicht angesprochen oder aufgeworfen wird, seien diese als weniger wichtig zu betrachten. Demnach sollte die Entwicklung dieser beiden Strömungen in Beziehung zu den beiden Hauptströmungen gesetzt werden.

Slote nimmt an, dass Kantianer sich fragen würden, wieso psychologische Fragestellungen in ethischen Theorien und deren Geschichte auftauchen sollten. Um diese Frage zu beantworten, vergleicht er Gilligans Aufsatz, der seiner Meinung nach weitreichende Folgen für philosophische Theorien hat, mit William James' Pragmatism: A New Name for Some Old Ways of Thinking.
Williams habe eine Unterscheidung zwischen 'tough-minded' und 'tender-minded' philosophischen Sichtweisen getroffen. Obwohl diese Unterscheidung von Slote als hilfreich angesehen wird, um philosophische Entscheidungen zu verstehen, hat sie seiner Meinung nach nicht dieselbe Durchschlagskraft wie Gilligans Thesen. Zum Einen siedelt James seine Unterscheidung nicht in der Kindheit an, zum Anderen erklärt er auch nicht, wieso überhaupt eine Philosophen der einen und andere der anderen Denkart anhängen.

Weiterhin könne ein Kantianer fragen, warum Gilligans These relevant für Fragen der ethischen Richtigkeit sein sollte. Mit Margaret Walker und Alison Jaggar behauptet Slote, dass man ein Interesse daran haben sollte, seine eigenen Werurteile auf ihre Herkunft zu überprüfen, um Engstirnigkeit, Vorurteilsbeladenheit und Eigeninteresse als Antrieb auszuschließen. Diese Idee des kritischen Hinterfragens der eigenen Urteilsmotive wurde bereits von Bernard Williams ausführlich bearbeitet. Falls diese Art von empirischen Faktoren für die ethische Glaubwürdigkeit relevant sei, wäre es falsch von Kantianern am non-empirischen Charakter ethischer Fragestellungen festzuhalten.

Gilligan biete eine Möglichkeit an, zu verstehen, warum/auf welchem Wege Menschen zu einer normativen Orientierung gelangen - diese Möglichkeit böten der Konsequentialismus oder die aristotelische Tugendethik nicht. Indem sie neue Wege eröffnen, ethische Fragestellungen zu begreifen, sei ihre Arbeit für die Philosophie sogar wichtiger als die Kohlbergs oder Freuds.

Der Grund für die große Außenwirkung von Gilligans Werk liege darüber hinaus im Zeitpunkt, zu dem es erschien (Frauenbewegung), seiner Abkehr von einem Mutterbild der Selbstaufgabe, seiner expliziten Beschäftigung mit ethischen Fragestellungen und zuletzt Gilligans eingängiger These eines Dualismus der moralischen Stimmen.