Carol Gilligan and
the History of Ethics
in:
Essays on the History of Ethics - Michael Slote, S. 150-161
Slote
fasst Gilligans Buch In a Different Voice
als Richtigstellung einer Voreingenommenheit in der Forschung auf.
Demnach sei unter anderem durch Kohlbergs und Piagets Studien
impliziert worden, dass Frauen den Männern moralisch unterlegen
seien. Gilligan bemerke richtig, dass Entwicklungsmodelle, die allein
auf Studien an männlichen Probanden basieren, lediglich feststellen
können, dass Frauen anders - jedoch nicht schlechter - moralisch
denken und urteilen als Männer.
Trotz
den Zweifeln an der empirischen Validität von Gilligans Studien hebt
Slote hervor, dass Gilligans Buch die Bekanntheit der Care-Ethik
befördert und den Anstoß zu weiteren Publikationen auf diesem
Gebiet gegeben hat. Darüber hinaus habe Gilligan selbst ihre
Behauptungen zu den Unterschieden zwischen Männern und Frauen
revidiert und die Bedeutung der Care-Ethik unabhängig von
Geschlechterunterschieden betont. Als kontemporäre Werke zur
Care-Ethik zählt Slote Sara Ruddicks Maternal Thinking
und Lawrance Blums Friendship, Altruism and Morality,
die beide 1980 erschienen sind, sowie Nel Noddings Caring:
A Feminine Approach to Ethics and Moral Education,
welches 2 Jahre nach Voice
erschien und explizit versuchte, eine Fürsorgeethik zu entwickeln.
Außerdem sieht Slote eine weitere wichtige Auswirkung von Gilligans
Werk auf dem Gebiet der Philosophiegeschichte. Wenn die
Voreingenommenheit der Untersuchenden bis jetzt für einen
unbegründeten Ausschluss der Frauen gesorgt habe, müssen nun
entsprechende Werke anders bewertet werden.
Gilligans Beharren auf dem Dualismus zwischen rationalistischem
Liberalismus (Vertreter: Kant, Rawls, Dworkin, Nagel, Scanlon) und
der Care-Ethik wirft für Slote die Frage auf, wo in dieser Kluft der
utilitaristische Konsequentialismus oder die (neo-aristotelische)
Tugendethik anzusiedeln seien. Gilligans Umstrukturierung der
normativen Ethik sorge so für eine Re-evaluation bisher angenommener
Hierarchien bzw. Gleichstellung bestimmter Strömungen der normativen
Ethik. Anders als Kohlberg scheint Gilligan allerdings von einer
Gleichberechtigung der von ihr als am wichtigsten empfundenen Stimmen
auszugehen und die unterschiedlichen Sichtweisen
Slote weist darauf hin, dass die Care-Ethik historisch im
moralischen Sentimentalismus des achtzehnten Jahrhunderts (Vertreter:
Hume, Hutcheson) verwurzelt ist und auch dem christlichen Agapismus
Rechnung zu tragen hat.
Slote geht im Folgenden auf Nancy Chodorows Werk The Reproduction
of Mothering ein, die den von Gilligan aufgeworfenen Dualismus
von Getrenntheit/Autonomie und Bindung/Verantwortung auf seine
Wurzeln in der Kindheit untersucht. Chodorows Ansicht nach schätzen
Männer Getrenntheit mehr als Frauen, da sie sich in ihrer Kindheit,
um ihre Geschlechtsidentität ausbilden zu können, von ihrer Mutter
(primary care giver) lösen müssen. Frauen hingegen müssten aus der
Bindung zu ihrer Mutter nicht austreten.
Die Kluft zwischen Bindung und Getrenntheit kann nach Slote aber auch
unabhängig von Geschlechterunterschieden untersucht werden, was er
in seinem Buch The Ethics of Care versucht. Ankerpunkt seiner
Erläuterungen ist die Stadt Skokie in Illinois, in der sich einige
Holocaustüberlebende angesiedelt haben. Kantische Liberalisten
hätten unter der Berufung auf das Versammlungsrecht und die freie
Meinungsäußerung dafür argumentiert, einen Naziaufmarsch in diesem
Ort zu erlauben. Dagegen sei den Care-Ethikern der Wert der
Verbindung und Fürsorge wichtiger als Autonomierechte gegen andere.
Die Care-Ethiker hatten im Blick, dass ein Naziaufmarsch die
Überlebenden retraumatisieren und verletzen könne, auf Seiten der
Liberalisten sei dagegen die Gefahr für die Überlebenden ignoriert
und der Fokus auf die Konsequenzen eines Verbotes gelenkt worden -
obwohl Skokie von den Nazis mit Hinblick auf dessen Bevölkerung und
die durchschlagende Wirkung eines Aufmarsch ausgewählt worden war.
Diese
unterschiedlichen Ansichten sind Slotes Ansicht nach in einer
unterschiedlichen Bewertung von Getrenntheit/Bindung zu suchen,
welche schon in der Kindheit ausgebildet werden. Er nimmt eine
psychologische Ursache für die Tendenz zu einer der beiden Stimmen
an. Da sowohl im Konsequentialismus als auch in der aristotelischen
Tugendethik dieses Wertungsproblem nicht angesprochen oder
aufgeworfen wird, seien diese als weniger wichtig zu betrachten.
Demnach sollte die Entwicklung dieser beiden Strömungen in Beziehung
zu den beiden Hauptströmungen gesetzt werden.
Slote
nimmt an, dass Kantianer sich fragen würden, wieso psychologische
Fragestellungen in ethischen Theorien und deren Geschichte auftauchen
sollten. Um diese Frage zu beantworten, vergleicht er Gilligans
Aufsatz, der seiner Meinung nach weitreichende Folgen für
philosophische Theorien hat, mit William James' Pragmatism:
A New Name for Some Old Ways of Thinking.
Williams
habe eine Unterscheidung zwischen 'tough-minded' und 'tender-minded'
philosophischen Sichtweisen getroffen. Obwohl diese Unterscheidung
von Slote als hilfreich angesehen wird, um philosophische
Entscheidungen zu verstehen, hat sie seiner Meinung nach nicht
dieselbe Durchschlagskraft wie Gilligans Thesen. Zum Einen siedelt
James seine Unterscheidung nicht in der Kindheit an, zum Anderen
erklärt er auch nicht, wieso überhaupt eine Philosophen der einen
und andere der anderen Denkart anhängen.
Weiterhin
könne ein Kantianer fragen, warum Gilligans These relevant für
Fragen der ethischen Richtigkeit sein sollte. Mit Margaret Walker und
Alison Jaggar behauptet Slote, dass man ein Interesse daran haben
sollte, seine eigenen Werurteile auf ihre Herkunft zu überprüfen,
um Engstirnigkeit, Vorurteilsbeladenheit und Eigeninteresse als
Antrieb auszuschließen. Diese Idee des kritischen Hinterfragens der
eigenen Urteilsmotive wurde bereits von Bernard Williams ausführlich
bearbeitet. Falls diese Art von empirischen Faktoren für die
ethische Glaubwürdigkeit relevant sei, wäre es falsch von
Kantianern am non-empirischen Charakter ethischer Fragestellungen
festzuhalten.
Gilligan
biete eine Möglichkeit an, zu verstehen, warum/auf welchem Wege
Menschen zu einer normativen Orientierung gelangen - diese
Möglichkeit böten der Konsequentialismus oder die aristotelische
Tugendethik nicht. Indem sie neue Wege eröffnen, ethische
Fragestellungen zu begreifen, sei ihre Arbeit für die Philosophie
sogar wichtiger als die Kohlbergs oder Freuds.
Der
Grund für die große Außenwirkung von Gilligans Werk liege darüber
hinaus im Zeitpunkt, zu dem es erschien (Frauenbewegung), seiner
Abkehr von einem Mutterbild der Selbstaufgabe, seiner expliziten
Beschäftigung mit ethischen Fragestellungen und zuletzt Gilligans
eingängiger These eines Dualismus der moralischen Stimmen.