Moralische
Orientierung und moralische Entwicklung
Carol Gilligan
Hier kann man eine junge und eine alte Frau sehen, jedoch selten beide zugleich |
Auf moralische Urteile übertragen bedeutet dies, dass eindeutig erscheinende Lösungsansätze nicht immer die einzig richtigen sein müssen und dass das Bedürfnis nach Geschlossenheit möglicherweise den Weg zu einer anderen Perspektive versperrt.
Gilligan sieht
diese Problematik bei der Untersuchung der moralischen Entwicklung
gegeben, da die Gerechtigkeitsperspektive die Fürsorgeperspektive
als alternativen Bezugsrahmen in der Forschung Piagets und Kohlbergs
verstellt. Deshalb sei es wichtig festzuhalten, dass sowohl private
als auch öffentliche Beziehungen zwischen Menschen mit Rekurs auf
ihre Gleichheit wie auf ihre Bindung charakterisiert werden
können und dass sowohl Ungleichheit als auch Trennung moralische
Probleme aufwerfen können.
Um auf diesen
Umstand besser eingehen zu können, möchte Gilligan zwischen dem
moralischen Entwicklungsniveau (Grad der Adäquatheit der Position
innerhalb einer Orientierung) und der moralischen Orientierung
andererseits unterscheiden.
Besonders Frauen
neigen laut Gilligan dazu, moralische Probleme - besonders dann, wenn
sie über ihre eigene Erfahrung sprechen - auf eine Art zu
definieren, die die Moraltheorie außer Acht lässt.
Die Entdeckung,
dass häufig eine andere Stimme als die Gerechtigkeitsperspektive das
moralische Urteil von Frauen leitet, lenkte Gilligans Aufmerksamkeit
darauf, dass Kohlberg als empirische Basis für seine
Theoriekonstruktion eine geschlechtshomogene, männliche
Probandengruppe nutzte - dies sei als Basis für eine Generalisierung
die beide Geschlechter betreffe logisch inkonsistent.
Auch Piaget
definierte seine entwicklungspsychologischen Erkenntnisse auf
Grundlage seiner Untersuchungen zum Murmelspiel von Jungen
definierte. Gilligan stellt fest, dass Mädchen hier lediglich als
Kontrollgruppe von Interesse waren.
Gilligan will im
Folgenden die Gerechtigkeitsperspektive und die Fürsorgeperspektive
unterscheiden und nimmt aufgrund des empirischen Zusammenhanges von
Fürsorgeperspektive und weiblicher Geschlechtszugehörigkeit an,
dass Frauen eine anders geartete Perspektivenpräferenz haben.
Beide
Perspektiven bezeichnen laut Gilligan verschiedene Möglichkeiten,
die Grundelemente moralischen Urteilens zu organisieren: das Selbst,
die Anderen und die Beziehungen zwischen ihnen. Es verändere sich
mit dem Perspektivenwechsel die Dimension, in der Beziehungen
organisiert werden. Innerhalb einer Gerechtigkeitsperspektive sei
Unparteilichkeit das Kennzeichen reifen moralischen Denkens, da sie
leidenschaftslose Urteile und Objektivität befördere. Aus einer
Fürsorgeperspektive sei Unparteilichkeit im Sinne fehlender Empathie
aber gerade eines der zentralen Probleme. Gilligan führt im
Folgenden weitere Eigenschaften der Perspektiven an:
Fürsorgeperspektive
|
Gerechtigkeitsperspektive
|
setzt eine Verbindung und die Möglichkeit des Verstehens voraus | setzt Getrenntsein voraus und entsprechend das Bedürfnis nach einer äußeren verbindenden Struktur |
das Fehlerrisiko besteht im
Vergessen der eigenen Kriterien; man kann sich soweit auf die
Perspektive des Anderen einlassen, dass man sich nach den
Kriterien anderer definiert und sich als "selbstlos"
begreift |
das Fehlerrisiko besteht im
latenten Egozentrismus, die eigene Perspektive kann leicht mit
einem objektiven Standpunkt verwechselt werden |
Die Beziehung definiert das Selbst und die Anderen | das Selbst als moralische Instanz hebt sich vom Hintergrund sozialer Beziehungen ab |
Die beiden
Perspektiven, die sie nicht als komplett gegensätzlich, sondern als
komplementär verstanden wissen will, verdeutlicht sie am Beispiel
zweier Medizinstudenten, deren Tutor in ihrer Ausbildungsinstitution
Alkohol konsumiert hatte, den sie jedoch nicht anzeigten.
Student 1
begründete seine Entscheidung dadurch, dass der Tutor ein
"angemessenes Ausmaß an Reue" gezeigt habe. Zusätzlich
stellt der Student in Frage, ob das Alkoholverbot seitens der
Ausbildungsinstitution rechtens sei.
Student 2 rechtfertigt seine Entscheidung mit der Überlegung, dass eine Anzeige das Problem des Tutors nicht lösen würde, da die Bindung zwischen ihm und dem Studenten zerstört würde und somit eine Hilfsperspektive versperrt sei. Weiterhin fragt sich der Student, ob der Tutor selbst sein Alkoholproblem erkennt.
Student 2 rechtfertigt seine Entscheidung mit der Überlegung, dass eine Anzeige das Problem des Tutors nicht lösen würde, da die Bindung zwischen ihm und dem Studenten zerstört würde und somit eine Hilfsperspektive versperrt sei. Weiterhin fragt sich der Student, ob der Tutor selbst sein Alkoholproblem erkennt.
Gilligan
verdeutlicht hieran den Unterschied zwischen Fürsorge im Rahmen der
Gerechtigkeitsperspektive und der Fürsorgeperspektive selbst.
Student 1 mildert durch Gnade das Recht ab; Fürsorge wird zu einem
Akt der Gnade. Auch sind im Rahmen der Gerechtigkeitsperspektive
supererogatorische Pflichten, die aus persönlichen Beziehungen
erwachsen möglich, ebenso frei gewählte Altruismus. All dies tastet
die Grundannahme der Gerechtigkeitsperspektive nicht an: Die
Distinktsetzung von Selbst und Anderen sowie die Logik der
Reziprozität und gleicher Achtung.
Dem gegenüber ist die Fürsorge als Moraltheorie weniger gut ausgearbeitet und verfügt nicht über ein geeignetes Vokabular, um sie zu beschreiben. Es geht bei der Fürsorgeperspektive um die Interdependenz von Ego und Alter, um die Auffassung von Handlung als einfühlsamer Reaktion, die in einer Beziehung steht. Hier wird die die Distinktsetzung von Selbst und Anderen problematisch, da sie zu Gleichgültigkeit führt. Gilligan hebt darauf ab, dass jeder der Studenten mit seiner Rechtfertigung Problemaspekte erörtert, die der andere nicht erwähnt. Sie hält fest, dass die verschiedenen Perspektiven einander nicht negieren, aber die Aufmerksamkeit jeweils auf unterschiedliche Dimensionen der Situation lenken.
Dem gegenüber ist die Fürsorge als Moraltheorie weniger gut ausgearbeitet und verfügt nicht über ein geeignetes Vokabular, um sie zu beschreiben. Es geht bei der Fürsorgeperspektive um die Interdependenz von Ego und Alter, um die Auffassung von Handlung als einfühlsamer Reaktion, die in einer Beziehung steht. Hier wird die die Distinktsetzung von Selbst und Anderen problematisch, da sie zu Gleichgültigkeit führt. Gilligan hebt darauf ab, dass jeder der Studenten mit seiner Rechtfertigung Problemaspekte erörtert, die der andere nicht erwähnt. Sie hält fest, dass die verschiedenen Perspektiven einander nicht negieren, aber die Aufmerksamkeit jeweils auf unterschiedliche Dimensionen der Situation lenken.
Drei zentrale
Fragen bestimmen Gilligans systematische Forschung über Probleme der
moralischen Orientierung (nicht Entwicklung!) als einer Dimension
moralischen Urteilens:
1) Werden bei der
Diskussion eines moralischen Dilemmas Probleme der Gerechtigkeit
und/oder der Fürsorge artikuliert?
2) Gibt es eine
Tendenz, die Aufmerksamkeit auf nur eine Art von Problem zu lenken
und die andere nur minimal zu berücksichtigen?
3) Besteht ein
Zusammenhang zwischen moralischer Orientierung und Geschlecht?
Laut Gilligan
liefern empirische Studien für alle drei Fragen positive Ergebnisse.
"Aufgefordert, einen selbst erlebten moralischen Konflikt zu beschreiben, formulierten 55 von 80 (69%) nordamerikanischen Heranwachsenden und Erwachsenen mit höherem Bildungsgrad sowohl Gerechtigkeits- wie Fürsorgeargumente. Zwei Drittel jedoch (54 von 80) konzentrierten ihre Aufmerksamkeit vor allem auf eine der beiden Perspektiven [...] In dieser Untersuchung zeigten Männer wie Frauen [...] mit gleicher Wahrscheinlichkeit" das Phänomen der Konzentration auf eine Perspektive [...] Mit einer Ausnahme konzentrierten sich alle Männer, die überhaupt eine
"Aufgefordert, einen selbst erlebten moralischen Konflikt zu beschreiben, formulierten 55 von 80 (69%) nordamerikanischen Heranwachsenden und Erwachsenen mit höherem Bildungsgrad sowohl Gerechtigkeits- wie Fürsorgeargumente. Zwei Drittel jedoch (54 von 80) konzentrierten ihre Aufmerksamkeit vor allem auf eine der beiden Perspektiven [...] In dieser Untersuchung zeigten Männer wie Frauen [...] mit gleicher Wahrscheinlichkeit" das Phänomen der Konzentration auf eine Perspektive [...] Mit einer Ausnahme konzentrierten sich alle Männer, die überhaupt eine
Konzentration
aufwiesen, auf Gerechtigkeit."
Gilligans
Folgerungen:
a) Die
Möglichkeit der Konzentration auf Fürsorge würde zum Verschwinden
gebracht, wenn keine Frauen in Untersuchungsstichproben einbezogen
würden.
b) Die Betonung der Fürsorge im moralischen Urteil der Frauen weist auf die Beschränktheit einer allein auf Gerechtigkeit ausgerichteten Moraltheorie hin.
b) Die Betonung der Fürsorge im moralischen Urteil der Frauen weist auf die Beschränktheit einer allein auf Gerechtigkeit ausgerichteten Moraltheorie hin.
c) Wenn der
Bereich der Moral mindestens zwei Orientierungen umfasst, ist die von
den ProbanInnen gezeigte Präferenz ein Indiz dafür, dass Menschen
dazu neigen, die andere Orientierung aus dem Blick zu verlieren. Es
ist den meisten nicht möglich, beide Orientierungen zu integrieren
und die entstehende Ambiguität auszuhalten.
Mit Rückblick
auf Piagets und Kohlbergs geschlechtshomogene Versuchsgruppen merkt
Gilligan an, dass diejenigen, die moralische Urteile anhand der
"Achtung vor Regeln" zusammenfassen oder mit der Prämisse
dass "es (nur) eine Tugend gibt und ihr Name Gerechtigkeit ist"
beginnen, Frauen in der Moraltheorie notwendig als problematisch
sehen.
Im Folgenden legt
Gilligan eine Studie von Kay Johnston dar, bei der Johnston die
Beziehung zwischen moralischer Orientierung und
Problemlösungsstrategien ergründen wollte. Dazu verwendete Johnston
Fabeln, um die spontane moralische Orientierung und
Orientierungspräferenz zu testen. Die 60 ProbandInnen zwischen 11
und 15 Jahren sollten das in der Fabel aufgeworfene moralische
Problem angeben und es lösen. Anschließend wurden sie gefragt, ob
man das Problem auch auf eine andere Weise lösen könne. Etwa die
Hälfte der Kinder wechselte spontan die moralische Orientierung,
wenn sie gefragt wurden, andere folgten einer Hilfestellung des
Interviewers. Abschließend fragte man die Kinder, welche der von
ihnen gefundenen Lösungen die beste sei, wozu die Mehrzahl der
Kinder eine eindeutige Meinung hatte.
Johnstons
Ergebnis unterstützt Gilligans These von der weiblichen Moral:
Jungen präferierten spontan häufiger die Gerechtigkeitslösungen
und Mädchen verwendeten spontan häufiger Fürsorgelösungen.
Aus dieser Studie
folgert Gilligan, dass der Umstand, dass Kinder in der Lage sind die
moralische Orientierung zu wechseln, darauf hindeutet, dass die Wahl
der moralischen Orientierung Teil einer moralischen Entscheidung ist.
Ob diese Wahl implizit oder explizit getroffen wird, kann Gilligan
nicht näher bestimmen. Sie nimmt an, dass die Wahl mit Fragen der
Selbstachtung und Selbstdefinition zusammenhängt. Sie unterstreicht
mit Johnstons Studie ihre Annahme, dass die moralische Entwicklung
nicht anhand einer einzigen linearen Stufenfolge abgebildet
werden kann.
Die Frage wie
sich eine Orientierungspräferenz herausbildet wird von Gilligan
unter dem Blickwinkel von Chodorows Theorie der Objektbeziehung
betrachtet:
"Die Theorie der Objektbeziehung verknüpft die Herausbildung des Selbst mit der Erfahrung von Trennung, indem sie Individuierung an Trennung koppelt und so die Erfahrung des Selbst der Verbundenheit mit anderen entgegensetzt". Chodorow verbindet die Herausbildung der Geschlechtsidentität durch das Kind (Selbstidentifikation als männlich oder weiblich) mit der Analyse der Mutter-Kind-Beziehung. Er stellt die These auf, dass die mütterliche Fürsorge bei Mädchen die Fortdauer eines in Beziehung verankerten Selbstgefühls (relational sense of self), da weibliche Geschlechtsidentität mit dem Gefühl, mit der eigenen Mutter verbunden zu sein, zusammenstimmt. Bei Jungen steht die Geschlechtsidentität in einem Spannungsverhältnis zur Mutter - angeblich erfahren also Jungen zwar in der Mutter-Kind-Beziehung Anteilnahme und Fürsorge, ist aber in seiner männlichen Identität bedroht.
"Die Theorie der Objektbeziehung verknüpft die Herausbildung des Selbst mit der Erfahrung von Trennung, indem sie Individuierung an Trennung koppelt und so die Erfahrung des Selbst der Verbundenheit mit anderen entgegensetzt". Chodorow verbindet die Herausbildung der Geschlechtsidentität durch das Kind (Selbstidentifikation als männlich oder weiblich) mit der Analyse der Mutter-Kind-Beziehung. Er stellt die These auf, dass die mütterliche Fürsorge bei Mädchen die Fortdauer eines in Beziehung verankerten Selbstgefühls (relational sense of self), da weibliche Geschlechtsidentität mit dem Gefühl, mit der eigenen Mutter verbunden zu sein, zusammenstimmt. Bei Jungen steht die Geschlechtsidentität in einem Spannungsverhältnis zur Mutter - angeblich erfahren also Jungen zwar in der Mutter-Kind-Beziehung Anteilnahme und Fürsorge, ist aber in seiner männlichen Identität bedroht.
Für die Mädchen
bedeutet ihre Bindung zur Mutter ein Hindernis auf dem Weg zur
Individuierung, da die Verbundenheit mit anderen laut Chodorow die
Selbstentwicklung stört. Gilligan steht dieser Haltung kritisch
gegenüber und verweist darauf, dass PsychologInnen, die Moral mit
Trennung und Autonomie konfundieren, Fürsorge mit Selbstaufopferung
und Gefühl assoziieren anstatt anzuerkennen, dass Fürsorge eine
Form des Wissens und eine kohärente moralische Position ist.
Zwei Phänomene
bilden für Gilligan einen Zirkel, der die Moralphilosophie und
Psychologie beherrscht:
-Die
Gleichsetzung von Mann und Mensch [laut Gilligan kennzeichnend für
Platonische - / Aufklärungstradition und Psychologie]
-Die
Gleichsetzung von Fürsorge mit Selbstaufopferung
Dieser Nexus muss
laut Gilligan neu evaluiert und die weibliche Position muss in ihn
einbezogen werden. Sie schlägt vor, die Moraltheorie an zwei
Beziehungsdimension auszurichten: a) Bindung als Verbundenheit,
Fürsorge b) Getrenntheit als Unparteilichkeit, Gerechtigkeit. Dies
würde die weibliche Stimme anerkennend in die Forschung einbeziehen
und der Fürsorgeperspektive Raum schaffen. die ein ergänzendes und
unverzichtbares Gegenstück zur Gerechtigkeitsperspektive darstellt.
Noicee!!
AntwortenLöschenSehr: interesssssANT. dANKEEE!!!
AntwortenLöschen