Samstag, 26. Januar 2013

Psychologische Ethik, Alfred Schöpf



Psychologische Ethik (S. 210-234)
Alferd Schöpf
[aus: Geschichte der neueren Ethik, Band 2]

Ontogenese und Phylogenese der Moral
(In der Entwicklungspsychologie versteht man unter 'Ontogenese' die individuelle (psychische) Entwicklung. In der Biologie ist der Gegenbegriff 'Phylogenese'; das ist die Geschichte des Stammes alles Lebenden und dessen Verzweigungen.)

Man kann auf zwei Weisen nach dem Grund des moralischen Denkens fragen. Die Psychologie tut dies genealogisch, das heißt, sie fragt nach der Entstehungsgeschichte. Die Philosophie dagegen will die Frage der Begründung moralischer Urteile als Geltungsfrage (quid iuris) von der Frage nach ihrer Entstehung (quid facti) trennen. Die 'quaestio facti' betrifft nur die Art, wie eine Erkenntnis tatsächlich erworben wird. Ihr stellt der Kritizismus die 'quaestio juris', d. i. die Frage nach der transzendentalen Befugnis eines Begriffes nach seinem Rechtsanpruch  entgegen.

An dieser Schnittstelle sieht man in der Philosophie die Gefahr des Psychologismus gegeben: Wären die Kriterien und Begründungen von moralischen Entscheidungen auf seelisches Erleben und Einzelschicksale zurückzuführen, würde dies moralische Urteile bedingt und wandelbar machen. Dies würde einem transzendental-logischen Begründungsideal nicht genügen.
Es ist deshalb wichtig festzuhalten, dass die Psychologie als empirische Wissenschaft sich nur mit der faktischen Art des Entstehens von moralischen Überzeugungen beschäftigt.
Die Psychologische Ethik ist insofern von der Philosophie abhängig, als dass ihre Begründungsverfahren (nämlich die moralischen Bedingungen der psychosozialen Welt zu rekonstruieren) von dem abhängen, was als Maßstab der Obligationen und ihrer strukturellen Integration in einer moralischen Persönlichkeit zugrunde gelegt wird. Hier sind Rechtfertigungsverfahren einer Philosophischen Ethik vorausgesetzt, insofern ist die Psychologische Ethik keine autarke, geschlossene Disziplin.

Das Gebiet der faktischen Entstehungsgeschichte moralischer Überzeugungen und gliedert sich in drei Teilbereiche, von denen einer der Ontogenese und zwei der Phylogenese angehören:

Ontogenese
(betrifft das Entstehen moralischer Überzeugungen eines Individuums)
Phylogenese
(betrifft das Entstehen moralischer Überzeugungen als Prozess innerhalb der Menschengattung)

betrifft das Entstehen moral. Überzg. als Prozess der Menschengattung
betrifft das Entstehen moral. Überzg. als Prozess der Evolution
Aufgabe d. Entwicklungspsychologie
Aufgabe d. Gesellschaftswissenschaften
Aufgabe d. Biologie

Davon klar abzutrennen ist die Philosophie, der die Aufgabe der Rechtfertigung von Maßstäben zufällt. Es ist jedoch fragwürdig, ob die Wahrheit eines moralischen Urteils ausschließlich durch formale Prozeduren der Rechtfertigung aus Vernunftgründen zu erweisen ist, oder ob sie sich auch in seiner Entstehungsgeschichte zeigt.

Bei den Anstrengungen, die unternommen werden, um die formale Richtigkeit eines moralischen Urteils nachzuweisen werden für gewöhnlich 2 Schritte angewendet. Zum Einen wird aus dem Erleben einer Handlungssituation eine Handlungsregel/-maxime herausgelöst, zum Anderen nimmt man in einem Universalisierungsverfahren den Standpunkt eines allgemeinen Subjektes ein (im Gegensatz zu einem historisch bestimmten Subjekt mit propositionalen und volitionalen Gehalten). Durch diese Maßnahmen versucht man zu erreichen, dass die so gefundenen Maximen für jedermann jederzeit gelten können.

Jedoch sind für die Wahrheit eines moralischen Urteils in konkreten Entscheidungssituationen möglicherweise noch andere Bedingungen von Relevanz. So benötigt der Mensch für seine Entscheidung laut J. Rawls zum Beispiel eine inhaltlich moralische Überzeugung, die der formalen voraus gehen muss. Diese nennt Rawls "wohl überlegte Urteile". Nach Aristoteles benötigt ein Subjekt zum moralisch korrekten Handeln auch sittliches Verständnis, um die Bedingungen einer Situation angemessen erfassen zu können. Diese Erfahrungsgrundlage des Moralischen gilt es, näher zu beleuchten:
Unter welchen Bedingungen externer und interner Art kommt moralische Erfahrung zustande?
Wie beschaffen muss die kognitive Grundlage unseres Urteilens sein, damit eine Persönlichkeit moralisch ist?

Moralpsychologie und psychologische Ethik
Die psychologische Ethik beschäftigt sich mit der inhaltlichen Begründung der Entstehung des Sollens und der moralischen Identität als Voraussetzung für formale Rechtfertigungsverfahren. Die Moralpsychologie hat zwei große Themenbereiche:
1.) Inhaltliche Frage: Wie kann der Mensch moralisches Sollen erkennen und fühlen? Welches sind  
     die Entstehungsbedingungen?
2.) Strukturelle Frage: Ist das Erfassen moralischer Probleme als Kompetenz bereits angeboren?
     Müssen bestimmte Bedingungen erst sein Entstehen ermöglichen? Welches Niveau von
     Gefühlsdifferenzierung ist Voraussetzung für eine moralische Identität?

Die moralische Entwicklung als Gebiet der Entwicklungspsychologie ist in drei einflussreichen Richtungen zum Thema geworden.
1.) In der genetischen Theorie der Genfer Schule Jean Piagets mit Nachfolgern bei Lawrence Kohlberg, auslaufend in neueren Theorien des Perspektivwechsels und der sozialen Kognition.
2.) In der behavioristischen Tradition in ihrer radikal-reduktionistischen Form bei B.F. Skinner, die in die kognitiv orientierte Verhaltenspsychologie einmündet.
3.) In der Psychoanalyse bereits bei Sigmund Freud & weiteren Entwicklungen der Ichpsychologie.

Jean Piaget: Die Entwicklung des moralischen Urteils
Piagets genetische Schule beschäftigt sich mit moralischen Phänomenen, die er exemplarisch in Kinderspielen studiert. Dazu legt er den Kindern moralisch relevante Spielsituationen vor und befragt sie  zu deren Vorstellungen im Hinblick auf Fairness im Spiel, angebrachte Strafen etc.
Wenn die psychologische Persönlichkeit in fünf Systeme eingeteilt wird, nämlich Wahrnehmung, Denken, Bedürfnisse und Triebe, Emotionen, sowie Handlungen, dann ist Piaget vorrangig mit dem Zusammenhang zwischen Wahrnehmung-Denken-Handlung befasst. Es ergibt sich, dass die Systeme Emotionen, sowie Handlungen und Triebe methodisch ausgeklammert werden.
Es ist zum genaueren Verständnis anzumerken, dass Piaget hauptsächlich Jungenspiele analysierte, gebräuchliche Spiele verwendete und nicht die tatsächliche Spielsituation betrachtete; für die Tragweite seiner Theorie ist außerdem eine Erklärung seiner sechs Grundannahmen nötig:

1. Operatives Denken
Im Zentrum steht der Begriff des Denkens, dem Piaget operativ auffasst, d.h. als eine Art "in der Vorstellung handeln" oder Probehandeln.

2. Interaktionelles Denken
Das Denken steht in einem wechselseitigen Austauschprozess mit der Umwelt. Zum Einen muss sich der Organismus der Welt anpassen (Akkommodation) und zum Anderen passt er die Welt sich an (Assimilation).

3. Äquilibration
Die Austauschprozesse tendieren zu einem Gleichgewicht hin. Sie sind unter dem Gesichspunkt der Entwicklung zur Äquilibration hin zu erforschen.

4. Intelligenzpsychologie
Das Denken ist nur Teil von wesentlich allgemeineren Austauschprozessen mit der Umwelt. Alle Gleichgewichtslagen, die Organismen herstellen können, bezeichnet Piaget als intelligent. Intelligenz wird hier zu einem transitorischen Begriff, der die Felder der Biologie mit denen der Psychologie/Soziologie und der Logik verbindet.

5. Äquilibration = optimal
Anzustreben ist eine Gleichgewichtsform nahe einer mathematischen Gleichung, die in einer vollendeten Austauschbeziehung steht.

6. schème und structure
Piaget führt zwei Begriffe ein, 1.) das Handlungsschema (schème), 2.) die Handlungsstruktur (structure). Mit schème ist die Koordination von Handlungsabläufen und ihre Zusammenfassung zu einer Form gemeint. Davon unterschieden ist structure das allgemeinene Intelligenz- oder Handlungsniveau, auf dem diese Schemata angesiedelt sind.

Die prämoralische Strukur des Motorischen
Piaget unterscheidet eine vormoralische Phase der kindlichen Entwicklung von der moralischen.
Die vormoralische Phase nennt Piaget die 'sensu-motorische Phase', in ihr nimmt das Kind über die Sinne Reize auf und reagiert motorisch. Dem Aufgenommenen entsprechen noch keine Vorstellungsbilder, aber die Handlungsschemata werden komplexer.
In der folgenden Phase entwickelt das Kind symbolisches/anschauliches Denken.

Zwischen diesen beiden Phasen weist das Kind eine Regelmäßigkeit im Handeln auf, aber es ist nicht in der Lage, die Regeln einzusehen. Es probiert sich im Handeln aus ohne nachzuahmen - Nachahmung ist aber eine Voraussetzung für Sozialcharakter einer Handlung, ohne diesen kann es auch keine Frage nach Anerkennung der eigenen Handlung und keine Sollens-Verpflichtung geben.

Regelerkenntnis
In der prämoralischen Phase weist das Kind motorische Regelmäßigkeit auf, kann aber keine Regeln selbst einsehen. Diese structure herrscht vom ersten Lebensjahr an bis zum Grundschulalter vor. Drei Punkte markieren die prämoralische Phase, die egozentrische Perspektive,  der moralische Realismus und der Zwang der Erwachsenen.
-Die egozentrische Perspektive besagt, dass das Kind intelligenzmäßig noch nicht in der Lage ist,
 seine Perspektive zu dezentrieren, d.h. sich in andere hinein zu versetzen.
-Der moralische Realismus des Kindes bedeutet, dass es Handlungen danach beurteilt, was sie als
 Folgen in der Sichtweise der Eltern nach sich ziehen. Das Gut-Sein einer Handlung wird nicht von
 der Absicht abhängig gemacht, sondern von ihrem materiellen Resultat.
-Der Zwang der Eltern wirkt hier regulierend auf das Kind, das noch keine Regeln selbst einsehen
 kann.

Die Voraussetzungen für den Übergang von der prämoralischen structure zur Einsicht in eine Regel sind dreierlei:
1) Fähigkeit zur Nachahmung
    (Erwachen einer spezifisch sozialen Wahrnehmung, probeweises Einnehmen einer anderen 
    Perspektive)
2) Fähigkeit zu spielen
    (soziale Wahrnehmungen können so verarbeitet werden, dass das Kind sie symbolisch
    ausdrücken kann und ihnen eigene Bedeutung zulegt)
3) Innere Vorstellungsbilder
    (Um sich symbolisch ausdrücken zu können, benötigt das Kind eine eigene Vorstellungswelt)

In dieser Übergangsphase hin zur Regeleinsicht kann das Kind verpflichtende Regeln erfassen und sie befolgen; Piaget nennt sie deshalb eine einseitige Achtungsphase, die durch die elterlichen Ansprüche getragen wird. Weiterhin bezeichnet Piaget diese Moral als heteronom, weil sie sich am Handlungserfolg (Lob/Strafe) orientiert.

Eine Wende tritt für Piaget mit dem Lebensalter von sieben auf acht Jahre ein. Es entsteht eine Wandlung des Maßstab des Sich-Verpflichtet-Fühlens von der Verpflichtung gegenüber äußeren Forderungen zu einer Verpflichtung gegenüber sich selbst.
Den Entwicklungsfortschritt kontrastiert er mit der prämoralischen structure:

egozentristische Perspektive
Fähigkeit die eigene Perspektive zu dezentrieren
moralischer Realismus
Ablösung von elterlichen Zwang hin zu einer unabhängigen Sichtweise moralischer Probleme
Lob/Strafe
Orientieren an der inneren Absicht

Insgesamt durchläuft die moralische Entwicklung des Kindes nach Piaget vier Stadien, wobei das vierte Stadium mit dem 10.-12. Lebensjahr erreicht wird:
1) Regel ohne das Bewusstsein moralischer Verpflichtung
2) Regel mit Verpflichtung gegenüber der Autorität
3) Regel auf Verpflichtung zur wechselseitigen Zusammenarbeit
4) Regel aufgrund der Verpflichtung zur wechselseitigen Zusammenarbeit

Im vierten Stadium wird das Regelbewusstsein reflex und sucht nach verbindlichen Gesetzen zur Regelbegründung. Das Endziel der moralischen Entwicklung stellt sich für Piaget als Autonomie und Zusammenarbeit bei wechselseitiger Achtung dar. Moral hängt für ihn also am sozialen Faktum der Interaktion zwischen Menschen ab.

Weiterentwicklungen
Lawrence Kohlberg rückte den Fokus der Moralentwicklungsforschung noch mehr ins Abstrakte, da sie sich nicht mehr für die Strukturen des moralischen Urteils, sondern für dessen Begründung interessierte. Er behauptet mit seinem Stufenmodell sowohl Kinder als auch Erwachsene invariant aus allen Kulturen erfassen zu können. Mit seinem Ebenenschema  stieß er auf Kontroversen, die einmal die hierarchisch aufgebaute Stufenfolge, aber auch die Orientierung an westlichen Kulturen, die Favorisierung männlicher Erlebenswelten und die empirische Nachprüfbarkeit der Existenz der Stufen 5 und 6 betreffen.

[IN BEARBEITUNG]

Sozialwissenschaftlicher Sexismus: Carol Gilligans Fehlvermessung des Menschen, Debra Nails



Sozialwissenschaftlicher Sexismus: Carol Gilligans Fehlvermessung des Menschen (S.101-108)
Debra Nails

Debra Nails erwartet sich von einer sozialwissenschaftlichen Studie eine verlässliche Darstellung fehlerfreier Stichproben bei statistischen Analysen. Es sei nicht zulässig, bestimmte Daten hervorzuheben und bewusst eine hermeneutische "Interpretation" vorzunehmen. Genauso wären exemplarische Einzelbeispiele, die eine These unterstützen nicht angebracht, repräsentative Beispiele seien entscheidend.

Sie führt an, dass Carol Gilligan und Mary F. Belenky zwischen Gilligans Die andere Stimme und Belenkys Disserationsschrift (Conflict and Development) in Kooperation "A Naturalistic Study of Abortion Decisions" schrieben. Während Belenky jedoch in ihrer Dissertation Aussagen ungekürzt  offenlegt, finden sich in Gilligans Text immer wieder Auslassungen von Daten. Dies macht Nails an der Entwicklung einer Frau namens Betty fest, die bei Gilligan ein etwas zu stimmiges Fallbeispiel abgibt. 

Zunächst hat Gilligan in einem ersten Gespräch mit Betty durch nicht gekennzeichnete und geschickt gesetzte Textauslassungen, sowie Umformulierungen und Interpretationen von Bettys Aussagen ein möglichst egoistisches Bild der Probandin gezeichnet. Umso einfacher fiel es Gilligan im Folgenden die "dramtische Veränderung" Bettys hin zu einer höheren Moralstufe aufzuzeigen. So zitiert Gilligan unter anderem Bettys Aussage "ich bin sehr sensibel", um ihre Entwicklung darzustellen und lässt Bettys Nachsatz "mein Ideal wäre es, nicht so sensibel zu sein. So können andere meine Gefühle so leicht verletzen" aus. Der Nachsatz würde Gilligans These verletzen, nach der es Frauen darum geht, andere nicht zu verletzen und nicht darum, eigene Verletzung zu vermeiden.

Nails arbeitet an weiteren Aussagen von Betty heraus, dass Gilligan ein bewusst pointiertes Bild von Betty zeichnet und beispielsweise Aussagen zu Berechtigung zur Rache außen vor lässt.

Geschlechtsunterschiede in der Entwicklung des moralischen Urteils, Lawrence J. Walker



Geschlechtsunterschiede in der Entwicklung des moralischen Urteils (S. 109-120)
Lawrence J. Walker

Literaturüberblick bezogen auf alle Studien , die unter Verwendung von Kohlbergs Messverfahren Geschlechtsunterschiede in der Entwicklung des moralischen Urteils prüfen. Untersuchungen, die sich des DIT (Defining Issues Test, Komponentenmodell der moralischen Entwicklung) bedienen, seien schon von  James Rest (1979) zusammengefasst worden und allesamt zu dem Ergebnis gekommen, dass sich keine signifikanten Geschlechterdifferenzen ergeben. Der DIT wird auch Neo-Kohlbergianisch genannt, weil er Kognition, persönliches Konstruieren moralischer Perspektiven, moralische Entwicklung und postkonventionelles Moraldenken fokussiert.

Das File-Drawer-Problem, welches Rosenthal 1979 beschrieb, kommt in der Forschung um moralische Entwicklung mit Bezug auf die Geschlechterdifferenz wohl häufig zum Tragen:
Daten werden aufgrund fehlender statistischer Signifikanz nicht publiziert und bleiben in der Schublade. Hieraus ergibt sich, dass die meisten Forscher, die nichts über Geschlechterdifferenzen berichteten, möglicherweise keine Unterschiede festgestellt haben.

Drei Lebensphasen wurden in der Forschung unterschieden: a) Kindheit und Frühadoleszenz, b)Spätadoleszenz und Jugendalter, c) Erwachsenenalter.

a) Kindheit und Frühadoleszenz: Es lagen 31 Untersuchungen mit insgesamt 2.879 Versuchspersonen dieser Altersgruppe vor. Es stellte sich heraus, das Geschlechtsunterschiede in moralischen Urteilen in diesem Lebensabschnitt selten sind. Nur 5 von 41 Stichproben liefern signifikante Ergebnisse im Bezug auf die Unterschiede; wenn Unterschiede vorkommen, beziehen sie sich auf eine reifere Entwicklung der Mädchen.

b) Spätadoleszenz  und Jugendalter: Es lagen 35 Untersuchungen mit insgesamt 3.901 Versuchspersonen vor, wobei es sich überwiegend um Oberschüler und Studenten handelte. Lediglich in 7 von 46 Stichproben zeigten sich Geschlechtsunterschiede, die auf eine reifere Entwicklung der Männer um etwa 1/2 Stufe hindeuten.

c) Erwachsenenalter: Es lagen 13 Untersuchungen mit insgesamt 1.223 Versuchspersonen vor. Geschlechtsunterschiede zeigten sich hier geringfügig häufiger als in den vorangegangen Lebensabschnitten. In 21 Stichproben fanden sich 4 signifikante Unterschiede, die sämtlich zugunsten der Männer lagen.

Hierzu ist anzumerken, dass es aufgrund der vorliegenden Daten unmöglich ist, entwicklungsbedingte und Kohorten-Unterschiede zu trennen - daher könnten Geschlechtsunterschiede auch nur in dieser Generation häufiger sein als in der späteren.
Hinzu kommt, dass die Variable Geschlecht oft mit Unterschieden im Bildungsgrad und/oder Berufsposition konfuierte. Waren Männer und Frauen hinsichtlich Bildung und beruflicher Stellung vergleichbar, waren Geschlechtsunterschiede im moralischen Urteilen nicht nachweisbar.

=> Es besteht direkte Evidenz für den Zusammenhang zwischen einer Vielzahl sozialer Erfahrungen (z.B. Familiendiskussionen, Bildung, Beruf, politische und soziale Betätigung) und moralischer Entwicklung.

Weibliche Moral: Die Kontroverse um eine geschlechtsspezifische Ethik, Nunner-Winkler



Weibliche Moral: Die Kontroverse um eine geschlechtsspezifische Ethik
"Zur Einführung: Die These von den zwei Moralen" Gertrud Nunner-Winkler (S.9-23)

Als Weiterentwicklung von Jean Piagets Theorie der Moralentwicklung (entwickelt in Jean Piaget : Das moralische Urteil beim Kinde. Zürich 1954)  hat Lawrence Kohlberg auf der Grundlage von Antworten auf hypothetische moralische Dilemmata ein Stufenmodell der Entwicklung der moralischen Urteilsfähigkeit entworfen. Um von einer Stufe des Moralbewusstseins zur nächsten zu gelangen, muss ein Mensch in drei Bereichen Fortschritte machen:
1.    Seine soziale Perspektive muss sich erweitern, weg von einer rein egozentrischen Perspektive hin zur Realisierung der Ansprüche anderer Menschen in der Gemeinschaft.
2.    Seine moralische Selbstbestimmung muss sich verbessern, er muss moralische Normen hinterfragen und begründen lernen.
3.    Die Begründung der Regeln seines Handelns muss sich verbessern. Eine reine egozentrische Lust/Unlust-Begründung wird schrittweise abstrakter hin zu einem postkonventionellen Normbegründungskonzept.

Folgende Stufen unterscheidet Kohlberg:

Ebene 1
präkonventionelle Ebene
a) Straf- und Gehorsamsorientierung:
[Stufe 1]

Orientierung an wahrgenommenen Machtpotentialen; Vermeidung von Strafe
b) instrumentell-relativistische Orientierung:
[Stufe 2]

Reziprozität von Handlungen wird erlernt; gelegentlich werden fremde Bedürfnisse befriedigt, wenn dies Nutzen verspricht (Kooperation)
Ebene 2
konventionelle Ebene
a) interpersonale Konkordanzorientierung:
[Stufe 3]

moralische Erwartungen Anderer werden erkannt; den Erwartungen der Bezugspersonen will entsprochen werden; bei Ungenügen treten Schuldgefühle auf
b) Orientierung an Gesetz & Ordnung:
[Stufe 4]


Bedeutung moralischer Normen für das Funktionieren der Gesellschaft wird erkannt. Moralische Regeln werden   befolgt, da sie für das Aufrechterhalten der sozialen Ordnung erforderlich sind (law and order).
Ebene 3
Übergangsebene
In der Übergangszeit zum Erwachsenwerden befinden sich Jugendliche typischerweise in einer Übergangsphase. Um sich vom konventionellen Niveau des Moralbewusstseins zu lösen, ist es wichtig, moralische Normen zu hinterfragen; in der Übergangsphase gelingt es dem Menschen noch nicht, die Begründung von Normen auf ein neues, intersubjektives Fundament zu stellen.
Ebene 4
Postkonventionelle Ebene
a) legalistische Orientierung am Sozialvertrag:
[Stufe 5]

Moralische Normen werden jetzt hinterfragt und nur noch als verbindlich angesehen, wenn sie gut begründet sind. In der fünften Stufe orientiert sich der Mensch an der Idee eines Gesellschaftsvertrags. Aus Gedanken der Gerechtigkeit oder der Nützlichkeit für alle werden bestimmte Normen akzeptiert.
b) Orientierung am universalen ethischen Prinzip:
[Stufe 6]

(Von weniger als 5 % der Menschen erreicht.) Die Moralbegründung orientiert sich jetzt am Prinzip der zwischenmenschlichen Achtung, dem Vernunftstandpunkt der Moral. Das richtige Handeln wird mit selbstgewählten ethischen Prinzipien, die sich auf Universalität und Widerspruchslosigkeit berufen, in Einklang gebracht

Es ist zu beachten, dass sich das Moralverständnis von Stufe zu Stufe verfeinert und dass keine der Stufen übersprungen werden kann. Höhere Stufen sollen zu angemesseneren Lösungen von moralischen Konflikten führen, indem 1. die Zahl der im Urteil berücksichtigten potentiell Betroffenen erweitert wird (größere Unparteilichkeit) und sich 2. der inhaltliche Fokus eines Urteils  verschiebt. Hierbei werden auf der präkonventionellen Ebene die Handlungsfolgen (Strafe/Belohnung) anvisiert, auf Stufe 3 die Intentionen, auf Stufe 4 die faktische Geltung herrschender Normen und erst auf der der postkonventionellen Ebene werden wirklich ausgewogene moralische Urteile möglich. "[R]echtfertigbare [werden] von illegitimen Aussagen angemessen unterschieden, Intentionen bei der Straf- und Schuldzuweisung angemessen berücksichtigt und Legalität und Legitimität klar unterschieden." (S.11)

Carol Gilligan bemerkte, dass bei der Einteilung der Antworten der ProbandInnen in das Stufenmodell die Aussagen von Frauen häufiger der Stufe 3 (interpersonale Konkordanzorientierung; zentrierte persönliche Anteilnahme in zwischenmenschlichen Beziehungen) zugeordnet wurden, während Männer eher Stufe 4 (Orientierung an Gesetz & Ordnung; Pflichterfüllung in Institutionen und abstrakten Gemeinschaften) erreichten.
Gilligan versuchte zu zeigen, dass es sich nicht um eine einfache "moralische Unterentwicklung" der Frau handelte, sondern dass zwischen den männlichen und weiblichen Antworten Unterschiede in der Akzentuierung moralischer Orientierung bestehen. Während die Aussagen beider Geschlechter durchschnittlich auf der konventionellen Ebene angesiedelt waren, schien die von den Frauen präferierte interpersonale Konkordanzorientierung der Orientierung an Gesetz & Ordnung nachgestellt und unterlegen zu sein.

Auf diese Feststellung folgten zwei Reaktionen:
1. Die Differenzen wurden durch den Anwendungsbereich/die spezifische Konfliktsituation erklärt.
2. Die Differenzen wurden durch gruppenspezifische Unterschiede in der Zugangsweise zu moralischen Konflikten erklärt.

Den ersten Weg schlug Norma Haan (1977, 1978) mit ihrer Unterscheidung von zwei bereichsspezifischen Moralen ein: Die interpersonelle Moral (face-to-face) konzentriere sich auf die Lösung zwischenmenschlicher Konflikte im Nahbereich, während die öffentliche Moral Interessenskonflikte um konsensfähige Regelungen in sozialen Organisationen abdeckt. Für beide Moralbereiche entwickelte Haan ein eigenes Stufenmodell und betonte deren komplementäre Koexistenz. So seien sie gleichermaßen notwendig, um erfolgreich in sozialen Interaktionen zu navigieren  und je nach Kontext des moralischen Konfliktes sei einer der beiden Bereiche angemessener. Da das Expertentum in beiden Bereichen durch Erfahrung erworben wird, kann es zu soziokulturell bedingten Unterschieden zwischen der Expertise der Geschlechter in den beiden Bereichen kommen, was jedoch den Erwerb des Verständnisses für die weniger erprobten Konfliktlösungsmodi nicht ausschließt.

Carol Gilligan schlug den zweiten Weg ein, indem sie zwei moralische Orientierungen aufstellte, die sie männlich, respektive weiblich, besetzte und sie formal sowie inhaltlich unterschied:


Fürsorglichkeitsmoral ♀
Care- Ethik
Gerechtigkeitsmoral ♂
 Fairness- Ethik
Inhalt
Verantwortlichkeit und Fürsorge für andere; Leid für andere vermeiden/lindern
Wahrung von Rechten, Pflichterfüllung
Formal
kontextsensitiv, flexibel (moralische Regeln gelten nur prima facie)
rigide, abstrakt, universell (Ausnahmen von negativen Pflichten gibt es nicht)

Gilligans Konstruktion einer geschlechtsspezifischen moralischen Orientierung hat zwei Implikationen:
1.) Die moralische Orientierung lässt sich auf einen Dualismus "Flexibilität(+Fürsorge)-Rigidität(+Gerechtigkeit)" reduzieren.
2.) Es gibt einen universalen Entwicklungsmechanismus, der die Verknüpfung von Geschlechtszugehörigkeit und Moral erklärt.

Zur ersten Implikation wendet Nunner-Winkler ein, dass beispielsweise beim Utilitarismus Moral und Pflichterfüllung gar nicht korrelieren, sondern dort die Minimierung der Gesamtsumme von Leid im Vordergrund steht. Somit wären im Utilitarismus "Ausnahmen" von negativen Pflichten jederzeit möglich. Hinsichtlich positiver Pflichten merkt Nunner-Winkler an, dass deren Übertretung zwar moralisch unwert sei, aber keine Verschuldung darstelle. Die moderne Position einer Minimalmoral rechne die allgemeinen positiven Pflichten dem Feld der Supererogation zu.

Zur zweiten, biologistischen Implikation Gilligans wendet Nunner-Winkler ein, dass aufgrund dieser Annahme das Feld der möglichen Erklärungen für die moralische Entwicklung drastisch schrumpft, da man auf geschlechtsspezifische Abweichungen rekurrieren müsse (z.B. Hormone/Hirnaufbau). Tatsächlich findet bei Gilligan eine soziale Ursache Erwähnung; Frauen fungierten als erste Bezugsperson für Neugeborene und dies befördere den Ausbau eines beziehungsorientierten Selbst.

Nunner-Winkler merkt an, dass nur kontingent (d.h. historisch oder kulturspezifisch) an das Geschlecht gebundene Faktoren wie Teilhabe an gesellschaftlichen System wie Bildungs- und Berufswelt mit Gilligans These als Ursprung von Unterschieden unvereinbar sind. Weiterhin gelte es auch noch die durch individuelle biografische Erfahrungen angestoßenen autonomen Lernprozesse sowie geschlechtsunabhängige Einflussfaktoren auf die moralische Entwicklung zu berücksichtigen. So sei es denkbar, dass Menschen in konkurrenzorientierten, individualisierten Milieus eher auf Fairness bedacht wären.