Samstag, 26. Januar 2013

Weibliche Moral: Die Kontroverse um eine geschlechtsspezifische Ethik, Nunner-Winkler



Weibliche Moral: Die Kontroverse um eine geschlechtsspezifische Ethik
"Zur Einführung: Die These von den zwei Moralen" Gertrud Nunner-Winkler (S.9-23)

Als Weiterentwicklung von Jean Piagets Theorie der Moralentwicklung (entwickelt in Jean Piaget : Das moralische Urteil beim Kinde. Zürich 1954)  hat Lawrence Kohlberg auf der Grundlage von Antworten auf hypothetische moralische Dilemmata ein Stufenmodell der Entwicklung der moralischen Urteilsfähigkeit entworfen. Um von einer Stufe des Moralbewusstseins zur nächsten zu gelangen, muss ein Mensch in drei Bereichen Fortschritte machen:
1.    Seine soziale Perspektive muss sich erweitern, weg von einer rein egozentrischen Perspektive hin zur Realisierung der Ansprüche anderer Menschen in der Gemeinschaft.
2.    Seine moralische Selbstbestimmung muss sich verbessern, er muss moralische Normen hinterfragen und begründen lernen.
3.    Die Begründung der Regeln seines Handelns muss sich verbessern. Eine reine egozentrische Lust/Unlust-Begründung wird schrittweise abstrakter hin zu einem postkonventionellen Normbegründungskonzept.

Folgende Stufen unterscheidet Kohlberg:

Ebene 1
präkonventionelle Ebene
a) Straf- und Gehorsamsorientierung:
[Stufe 1]

Orientierung an wahrgenommenen Machtpotentialen; Vermeidung von Strafe
b) instrumentell-relativistische Orientierung:
[Stufe 2]

Reziprozität von Handlungen wird erlernt; gelegentlich werden fremde Bedürfnisse befriedigt, wenn dies Nutzen verspricht (Kooperation)
Ebene 2
konventionelle Ebene
a) interpersonale Konkordanzorientierung:
[Stufe 3]

moralische Erwartungen Anderer werden erkannt; den Erwartungen der Bezugspersonen will entsprochen werden; bei Ungenügen treten Schuldgefühle auf
b) Orientierung an Gesetz & Ordnung:
[Stufe 4]


Bedeutung moralischer Normen für das Funktionieren der Gesellschaft wird erkannt. Moralische Regeln werden   befolgt, da sie für das Aufrechterhalten der sozialen Ordnung erforderlich sind (law and order).
Ebene 3
Übergangsebene
In der Übergangszeit zum Erwachsenwerden befinden sich Jugendliche typischerweise in einer Übergangsphase. Um sich vom konventionellen Niveau des Moralbewusstseins zu lösen, ist es wichtig, moralische Normen zu hinterfragen; in der Übergangsphase gelingt es dem Menschen noch nicht, die Begründung von Normen auf ein neues, intersubjektives Fundament zu stellen.
Ebene 4
Postkonventionelle Ebene
a) legalistische Orientierung am Sozialvertrag:
[Stufe 5]

Moralische Normen werden jetzt hinterfragt und nur noch als verbindlich angesehen, wenn sie gut begründet sind. In der fünften Stufe orientiert sich der Mensch an der Idee eines Gesellschaftsvertrags. Aus Gedanken der Gerechtigkeit oder der Nützlichkeit für alle werden bestimmte Normen akzeptiert.
b) Orientierung am universalen ethischen Prinzip:
[Stufe 6]

(Von weniger als 5 % der Menschen erreicht.) Die Moralbegründung orientiert sich jetzt am Prinzip der zwischenmenschlichen Achtung, dem Vernunftstandpunkt der Moral. Das richtige Handeln wird mit selbstgewählten ethischen Prinzipien, die sich auf Universalität und Widerspruchslosigkeit berufen, in Einklang gebracht

Es ist zu beachten, dass sich das Moralverständnis von Stufe zu Stufe verfeinert und dass keine der Stufen übersprungen werden kann. Höhere Stufen sollen zu angemesseneren Lösungen von moralischen Konflikten führen, indem 1. die Zahl der im Urteil berücksichtigten potentiell Betroffenen erweitert wird (größere Unparteilichkeit) und sich 2. der inhaltliche Fokus eines Urteils  verschiebt. Hierbei werden auf der präkonventionellen Ebene die Handlungsfolgen (Strafe/Belohnung) anvisiert, auf Stufe 3 die Intentionen, auf Stufe 4 die faktische Geltung herrschender Normen und erst auf der der postkonventionellen Ebene werden wirklich ausgewogene moralische Urteile möglich. "[R]echtfertigbare [werden] von illegitimen Aussagen angemessen unterschieden, Intentionen bei der Straf- und Schuldzuweisung angemessen berücksichtigt und Legalität und Legitimität klar unterschieden." (S.11)

Carol Gilligan bemerkte, dass bei der Einteilung der Antworten der ProbandInnen in das Stufenmodell die Aussagen von Frauen häufiger der Stufe 3 (interpersonale Konkordanzorientierung; zentrierte persönliche Anteilnahme in zwischenmenschlichen Beziehungen) zugeordnet wurden, während Männer eher Stufe 4 (Orientierung an Gesetz & Ordnung; Pflichterfüllung in Institutionen und abstrakten Gemeinschaften) erreichten.
Gilligan versuchte zu zeigen, dass es sich nicht um eine einfache "moralische Unterentwicklung" der Frau handelte, sondern dass zwischen den männlichen und weiblichen Antworten Unterschiede in der Akzentuierung moralischer Orientierung bestehen. Während die Aussagen beider Geschlechter durchschnittlich auf der konventionellen Ebene angesiedelt waren, schien die von den Frauen präferierte interpersonale Konkordanzorientierung der Orientierung an Gesetz & Ordnung nachgestellt und unterlegen zu sein.

Auf diese Feststellung folgten zwei Reaktionen:
1. Die Differenzen wurden durch den Anwendungsbereich/die spezifische Konfliktsituation erklärt.
2. Die Differenzen wurden durch gruppenspezifische Unterschiede in der Zugangsweise zu moralischen Konflikten erklärt.

Den ersten Weg schlug Norma Haan (1977, 1978) mit ihrer Unterscheidung von zwei bereichsspezifischen Moralen ein: Die interpersonelle Moral (face-to-face) konzentriere sich auf die Lösung zwischenmenschlicher Konflikte im Nahbereich, während die öffentliche Moral Interessenskonflikte um konsensfähige Regelungen in sozialen Organisationen abdeckt. Für beide Moralbereiche entwickelte Haan ein eigenes Stufenmodell und betonte deren komplementäre Koexistenz. So seien sie gleichermaßen notwendig, um erfolgreich in sozialen Interaktionen zu navigieren  und je nach Kontext des moralischen Konfliktes sei einer der beiden Bereiche angemessener. Da das Expertentum in beiden Bereichen durch Erfahrung erworben wird, kann es zu soziokulturell bedingten Unterschieden zwischen der Expertise der Geschlechter in den beiden Bereichen kommen, was jedoch den Erwerb des Verständnisses für die weniger erprobten Konfliktlösungsmodi nicht ausschließt.

Carol Gilligan schlug den zweiten Weg ein, indem sie zwei moralische Orientierungen aufstellte, die sie männlich, respektive weiblich, besetzte und sie formal sowie inhaltlich unterschied:


Fürsorglichkeitsmoral ♀
Care- Ethik
Gerechtigkeitsmoral ♂
 Fairness- Ethik
Inhalt
Verantwortlichkeit und Fürsorge für andere; Leid für andere vermeiden/lindern
Wahrung von Rechten, Pflichterfüllung
Formal
kontextsensitiv, flexibel (moralische Regeln gelten nur prima facie)
rigide, abstrakt, universell (Ausnahmen von negativen Pflichten gibt es nicht)

Gilligans Konstruktion einer geschlechtsspezifischen moralischen Orientierung hat zwei Implikationen:
1.) Die moralische Orientierung lässt sich auf einen Dualismus "Flexibilität(+Fürsorge)-Rigidität(+Gerechtigkeit)" reduzieren.
2.) Es gibt einen universalen Entwicklungsmechanismus, der die Verknüpfung von Geschlechtszugehörigkeit und Moral erklärt.

Zur ersten Implikation wendet Nunner-Winkler ein, dass beispielsweise beim Utilitarismus Moral und Pflichterfüllung gar nicht korrelieren, sondern dort die Minimierung der Gesamtsumme von Leid im Vordergrund steht. Somit wären im Utilitarismus "Ausnahmen" von negativen Pflichten jederzeit möglich. Hinsichtlich positiver Pflichten merkt Nunner-Winkler an, dass deren Übertretung zwar moralisch unwert sei, aber keine Verschuldung darstelle. Die moderne Position einer Minimalmoral rechne die allgemeinen positiven Pflichten dem Feld der Supererogation zu.

Zur zweiten, biologistischen Implikation Gilligans wendet Nunner-Winkler ein, dass aufgrund dieser Annahme das Feld der möglichen Erklärungen für die moralische Entwicklung drastisch schrumpft, da man auf geschlechtsspezifische Abweichungen rekurrieren müsse (z.B. Hormone/Hirnaufbau). Tatsächlich findet bei Gilligan eine soziale Ursache Erwähnung; Frauen fungierten als erste Bezugsperson für Neugeborene und dies befördere den Ausbau eines beziehungsorientierten Selbst.

Nunner-Winkler merkt an, dass nur kontingent (d.h. historisch oder kulturspezifisch) an das Geschlecht gebundene Faktoren wie Teilhabe an gesellschaftlichen System wie Bildungs- und Berufswelt mit Gilligans These als Ursprung von Unterschieden unvereinbar sind. Weiterhin gelte es auch noch die durch individuelle biografische Erfahrungen angestoßenen autonomen Lernprozesse sowie geschlechtsunabhängige Einflussfaktoren auf die moralische Entwicklung zu berücksichtigen. So sei es denkbar, dass Menschen in konkurrenzorientierten, individualisierten Milieus eher auf Fairness bedacht wären.

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