Weibliche Moral: Die Kontroverse um eine
geschlechtsspezifische Ethik
"Zur Einführung: Die These von den zwei Moralen" Gertrud Nunner-Winkler (S.9-23)
"Zur Einführung: Die These von den zwei Moralen" Gertrud Nunner-Winkler (S.9-23)
Als Weiterentwicklung von Jean Piagets Theorie der
Moralentwicklung (entwickelt in Jean Piaget : Das moralische Urteil beim Kinde.
Zürich 1954) hat Lawrence Kohlberg auf
der Grundlage von Antworten auf hypothetische moralische Dilemmata ein
Stufenmodell der Entwicklung der moralischen Urteilsfähigkeit entworfen. Um von
einer Stufe des Moralbewusstseins zur nächsten zu gelangen, muss ein Mensch in
drei Bereichen Fortschritte machen:
1.
Seine soziale Perspektive muss sich erweitern,
weg von einer rein egozentrischen Perspektive hin zur Realisierung der
Ansprüche anderer Menschen in der Gemeinschaft.
2.
Seine moralische Selbstbestimmung muss sich
verbessern, er muss moralische Normen hinterfragen und begründen lernen.
3.
Die Begründung der Regeln seines Handelns muss
sich verbessern. Eine reine egozentrische Lust/Unlust-Begründung wird
schrittweise abstrakter hin zu einem postkonventionellen
Normbegründungskonzept.
Folgende Stufen unterscheidet Kohlberg:
Ebene 1
präkonventionelle Ebene |
a) Straf- und
Gehorsamsorientierung:
[Stufe 1]
Orientierung an
wahrgenommenen Machtpotentialen; Vermeidung von Strafe
|
b) instrumentell-relativistische
Orientierung:
[Stufe 2]
Reziprozität von
Handlungen wird erlernt; gelegentlich werden fremde Bedürfnisse befriedigt,
wenn dies Nutzen verspricht (Kooperation)
|
Ebene 2
konventionelle Ebene |
a) interpersonale
Konkordanzorientierung:
[Stufe 3]
moralische Erwartungen
Anderer werden erkannt; den Erwartungen der Bezugspersonen will entsprochen
werden; bei Ungenügen treten Schuldgefühle auf
|
b) Orientierung an
Gesetz & Ordnung:
[Stufe 4]
Bedeutung moralischer
Normen für das Funktionieren der Gesellschaft wird erkannt. Moralische Regeln
werden befolgt, da sie für das
Aufrechterhalten der sozialen Ordnung erforderlich sind (law and order).
|
Ebene 3
Übergangsebene |
In der Übergangszeit
zum Erwachsenwerden befinden sich Jugendliche typischerweise in einer
Übergangsphase. Um sich vom konventionellen Niveau des Moralbewusstseins zu
lösen, ist es wichtig, moralische Normen zu hinterfragen; in der
Übergangsphase gelingt es dem Menschen noch nicht, die Begründung von Normen
auf ein neues, intersubjektives Fundament zu stellen.
|
|
Ebene 4
Postkonventionelle Ebene
|
a) legalistische
Orientierung am Sozialvertrag:
[Stufe 5]
Moralische Normen
werden jetzt hinterfragt und nur noch als verbindlich angesehen, wenn sie gut
begründet sind. In der fünften Stufe orientiert sich der Mensch an der Idee
eines Gesellschaftsvertrags. Aus Gedanken der Gerechtigkeit oder der
Nützlichkeit für alle werden bestimmte Normen akzeptiert.
|
b) Orientierung am
universalen ethischen Prinzip:
[Stufe 6]
(Von weniger als 5 %
der Menschen erreicht.) Die Moralbegründung orientiert sich jetzt am Prinzip
der zwischenmenschlichen Achtung, dem Vernunftstandpunkt der Moral. Das
richtige Handeln wird mit selbstgewählten ethischen Prinzipien, die sich auf
Universalität und Widerspruchslosigkeit berufen, in Einklang gebracht
|
Es ist zu beachten, dass sich das Moralverständnis von Stufe zu Stufe verfeinert und dass keine der Stufen übersprungen werden kann. Höhere Stufen sollen zu angemesseneren Lösungen von moralischen Konflikten führen, indem 1. die Zahl der im Urteil berücksichtigten potentiell Betroffenen erweitert wird (größere Unparteilichkeit) und sich 2. der inhaltliche Fokus eines Urteils verschiebt. Hierbei werden auf der präkonventionellen Ebene die Handlungsfolgen (Strafe/Belohnung) anvisiert, auf Stufe 3 die Intentionen, auf Stufe 4 die faktische Geltung herrschender Normen und erst auf der der postkonventionellen Ebene werden wirklich ausgewogene moralische Urteile möglich. "[R]echtfertigbare [werden] von illegitimen Aussagen angemessen unterschieden, Intentionen bei der Straf- und Schuldzuweisung angemessen berücksichtigt und Legalität und Legitimität klar unterschieden." (S.11)
Carol Gilligan bemerkte, dass bei der Einteilung der
Antworten der ProbandInnen in das Stufenmodell die Aussagen von Frauen häufiger
der Stufe 3 (interpersonale Konkordanzorientierung; zentrierte persönliche
Anteilnahme in zwischenmenschlichen Beziehungen) zugeordnet wurden, während
Männer eher Stufe 4 (Orientierung an Gesetz & Ordnung; Pflichterfüllung in
Institutionen und abstrakten Gemeinschaften) erreichten.
Gilligan versuchte zu zeigen, dass es sich nicht um eine einfache "moralische Unterentwicklung" der Frau handelte, sondern dass zwischen den männlichen und weiblichen Antworten Unterschiede in der Akzentuierung moralischer Orientierung bestehen. Während die Aussagen beider Geschlechter durchschnittlich auf der konventionellen Ebene angesiedelt waren, schien die von den Frauen präferierte interpersonale Konkordanzorientierung der Orientierung an Gesetz & Ordnung nachgestellt und unterlegen zu sein.
Gilligan versuchte zu zeigen, dass es sich nicht um eine einfache "moralische Unterentwicklung" der Frau handelte, sondern dass zwischen den männlichen und weiblichen Antworten Unterschiede in der Akzentuierung moralischer Orientierung bestehen. Während die Aussagen beider Geschlechter durchschnittlich auf der konventionellen Ebene angesiedelt waren, schien die von den Frauen präferierte interpersonale Konkordanzorientierung der Orientierung an Gesetz & Ordnung nachgestellt und unterlegen zu sein.
Auf diese Feststellung folgten zwei Reaktionen:
1. Die Differenzen wurden durch den Anwendungsbereich/die
spezifische Konfliktsituation erklärt.
2. Die Differenzen wurden durch gruppenspezifische Unterschiede in der Zugangsweise zu moralischen Konflikten erklärt.
2. Die Differenzen wurden durch gruppenspezifische Unterschiede in der Zugangsweise zu moralischen Konflikten erklärt.
Den ersten Weg schlug Norma Haan (1977, 1978) mit ihrer
Unterscheidung von zwei bereichsspezifischen Moralen ein: Die interpersonelle
Moral (face-to-face) konzentriere sich auf die Lösung zwischenmenschlicher
Konflikte im Nahbereich, während die öffentliche Moral Interessenskonflikte um
konsensfähige Regelungen in sozialen Organisationen abdeckt. Für beide
Moralbereiche entwickelte Haan ein eigenes Stufenmodell und betonte deren
komplementäre Koexistenz. So seien sie gleichermaßen notwendig, um erfolgreich in
sozialen Interaktionen zu navigieren und
je nach Kontext des moralischen Konfliktes sei einer der beiden Bereiche
angemessener. Da das Expertentum in beiden Bereichen durch Erfahrung erworben
wird, kann es zu soziokulturell bedingten Unterschieden zwischen der Expertise
der Geschlechter in den beiden Bereichen kommen, was jedoch den Erwerb des
Verständnisses für die weniger erprobten Konfliktlösungsmodi nicht ausschließt.
Carol Gilligan schlug den zweiten Weg ein, indem sie zwei
moralische Orientierungen aufstellte, die sie männlich, respektive weiblich,
besetzte und sie formal sowie inhaltlich unterschied:
Fürsorglichkeitsmoral
♀
Care- Ethik
|
Gerechtigkeitsmoral
♂
Fairness- Ethik |
|
Inhalt
|
Verantwortlichkeit und
Fürsorge für andere; Leid für andere vermeiden/lindern
|
Wahrung von Rechten,
Pflichterfüllung
|
Formal
|
kontextsensitiv,
flexibel (moralische Regeln gelten nur prima facie)
|
rigide, abstrakt,
universell (Ausnahmen von negativen Pflichten gibt es nicht)
|
Gilligans Konstruktion einer geschlechtsspezifischen
moralischen Orientierung hat zwei Implikationen:
1.) Die moralische Orientierung lässt sich auf einen Dualismus "Flexibilität(+Fürsorge)-Rigidität(+Gerechtigkeit)" reduzieren.
1.) Die moralische Orientierung lässt sich auf einen Dualismus "Flexibilität(+Fürsorge)-Rigidität(+Gerechtigkeit)" reduzieren.
2.) Es gibt einen universalen Entwicklungsmechanismus, der
die Verknüpfung von Geschlechtszugehörigkeit und Moral erklärt.
Zur ersten Implikation wendet Nunner-Winkler ein, dass
beispielsweise beim Utilitarismus Moral und Pflichterfüllung gar nicht
korrelieren, sondern dort die Minimierung der Gesamtsumme von Leid im Vordergrund
steht. Somit wären im Utilitarismus "Ausnahmen" von negativen
Pflichten jederzeit möglich. Hinsichtlich positiver Pflichten merkt
Nunner-Winkler an, dass deren Übertretung zwar moralisch unwert sei, aber keine
Verschuldung darstelle. Die moderne Position einer Minimalmoral rechne die
allgemeinen positiven Pflichten dem Feld der Supererogation zu.
Zur zweiten, biologistischen Implikation Gilligans wendet
Nunner-Winkler ein, dass aufgrund dieser Annahme das Feld der möglichen
Erklärungen für die moralische Entwicklung drastisch schrumpft, da man auf
geschlechtsspezifische Abweichungen rekurrieren müsse (z.B.
Hormone/Hirnaufbau). Tatsächlich findet bei Gilligan eine soziale Ursache
Erwähnung; Frauen fungierten als erste Bezugsperson für Neugeborene und dies
befördere den Ausbau eines beziehungsorientierten Selbst.
Nunner-Winkler merkt an, dass nur kontingent (d.h.
historisch oder kulturspezifisch) an das Geschlecht gebundene Faktoren wie
Teilhabe an gesellschaftlichen System wie Bildungs- und Berufswelt mit
Gilligans These als Ursprung von Unterschieden unvereinbar sind. Weiterhin
gelte es auch noch die durch individuelle biografische Erfahrungen angestoßenen
autonomen Lernprozesse sowie geschlechtsunabhängige Einflussfaktoren auf die
moralische Entwicklung zu berücksichtigen. So sei es denkbar, dass Menschen in
konkurrenzorientierten, individualisierten Milieus eher auf Fairness bedacht
wären.
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