Texte zur Ethik
Care-Ethik (S.57-60)
Der Begriff "Care-Ethik" wurde von Carol Gilligan
in "In a Different Voice" (1982) geprägt. Gilligan, eine
Mitarbeiterin Lawrence Kohlbergs, stellte fest, dass Frauen Dilemmata häufiger
durch Bezugnahme auf Rücksichtnahme und Hilfeleistungen im interpersonalen
Bereich lösten, was der Stufe 3 von Kohlbergs Stufenmodell entspricht. Während
Frauen auf Stufe 3 sich vor allem an ihrer umgebenden Primärgruppe (peers)
orientieren, baut sich die "Fairness-Ethik" der Männer auf den
Rechten und Pflichten in sozialen Organisationen (law & order) auf und
fokussiert Gerechtigkeit. "Während eine Ethik der Gerechtigkeit von der
Prämisse der Gleichberechtigung ausgeht, daß alle gleich behandelt werden
sollten, basiert eine Ethik der Anteilnahme/Zuwendung/Fürsorge auf der Prämisse
der Gewaltlosigkeit, daß niemand Schaden erleiden sollte" (Gilligan 1984,
212).
Michael Slote eruiert anhand des Skokie-Falles, bei dem es
um eine Demonstration von Neonazis im Ort Skokie (Illinois) geht, in dem eine
Vielzahl an Holocaust-Überlebenden lebt. Liberale wiesen in diesem moralischen
Konflikt auf das Recht der freien Meinungsäußerung hin und setzten sich für die
Erlaubnis derartiger Aufmärsche ein. Care-Ethiker verwiesen dagegen auf den
Schutz der physischen und psychischen Disposition der dort ansässigen
Bevölkerung und setzen sich gegen die geplanten Aufmärsche ein.
Texte zur Ethik
Carol Gilligan: Care-Ethik (S.351-360)
Die Gerechtigkeitsperspektive soll neu verstanden werden als
eine Art, moralische Probleme aufzufassen, alternativ dazu soll die
Perspektive der Fürsorge gesehen werden. Moralische Konflikte können sowohl mit
Rekurs auf Gleichheit wie auf Bindung nachgezeichnet werden.Die
moralischen Gebote, die aus diesen Perspektiven folgen, lauten. a) anderen
gegenüber nicht unfair zu handeln, b) jemanden, der in Not ist, nicht im Stich
zu lassen.
Gilligan beobachtete zwei Studien zum moralischen Urteilen.
In der einen schilderten College-Studenten ihre Erfahrungen mit moralischen
Konflikten, in der anderen beschäftigten sich schwangere Frauen mit Abtreibung.
Hier ging es also nicht um hypothetische Dilemmata, sondern um
Konfliktlösungsmodi im wahren Leben. Hierbei bemerkte sie, dass Frauen
moralische Konflikte oft nicht durch Kategorien der Moraltheorie
charakterisieren. Über diese Entdeckung kam sie zu der Erkenntnis, dass
Kohlbergs Untersuchungsdesign zur Moralentwicklung mangelhaft gewesen sei, da
er "rein männliche Stichproben als empirische Basis für die
Theoriekonstruktion" verwendet habe - mit einer geschlechtshomogenen
Stichprobe Analysekategorien zu erstellen, hält Gilligan für logisch
inkonsistent.
Schwierigkeiten mit dieser Konzeption hätten sich schon bei
Piaget gezeigt, da er die Entwicklung des kindlichen Bewusstseins auf der
Grundlage seiner Beobachtung des Murmelspiels von männlichen Kindern definierte
und anschließend die aufgestellten Entwicklungsstufen nur mutatis mutandis auf
weibliche Spielerinnen anwenden konnte (weil die Entwicklungssequenzen der
Spielerinnen nicht im selben Verhältnis zu sozialen Erfahrungen standen).
Gilligan beklagt, dass Piaget an dieser Stelle nur die
Übereinstimmung im Regelgebungsverhalten der beiden Geschlechter festgehalten,
aber nicht die festgestellten Unterschiede thematisiert hat. Mädchen hätten größere
Toleranz, eine stärkere Tendenz zu Innovationen der Konfliktlösung, eine
größere Bereitschaft für Ausnahmen bei Regeln und geringeres Interesse für
juristische Ausarbeitung gezeigt.
Kohlberg setzte laut Gilligan die moralische Entwicklung von
Kindern mit der Entwicklung des Urteilens über Gerechtigkeit gleich. Sie hält
fest, dass er seinen Test später selbst als Maß des "Urteilens über
Gerechtigkeit" und nicht mehr als Test der "moralischen Reife"
bezeichnet hat, jedoch habe die Studie weiterhin unglückliche Folgen:
1) Die Unterscheidung unterschiedlicher Entwicklungsstufen
innerhalb einer einzelnen Orientierung
2) Die Tatsache, dass weibliche Moralvorstellung bis dato
weder zur Konstruktion der Bedeutungsstruktur noch der Messinstrumente des
moralischen Urteilens untersucht wurden
Für Gilligan, die eine Unterscheidung zwischen der
Perspektive der Fürsorge und der der Gerechtigkeit anstrebt, legt die
empirische Korrelation zwischen weiblicher Geschlechtszugehörigkeit und
Fürsorge-Orientierung nahe, dass die Diskrepanzen zwischen Moraltheorie und
weiblichen Moralurteilen eine anders geartete moralische Orientierung
widerspiegeln. Sie möchte die beiden Perspektiven als komplementär und nicht
gegenseitig ausschließend verstanden wissen. Hierbei behauptet sie, dass das
Selbst in der Gerechtigkeitsperspektive Beziehungen im Begriff der
Gleichheit/Ungleichheit denkt, während es in der Fürsorgeperspektive in
Bindung/Trennung einteilt:
Fairness-Ethik
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Care-Ethik
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Beziehungsdimension
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Ungleichheit/Gleichheit
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Bindung/Trennung
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Aspekte
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Hierarchie/Gleichgewicht
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Netzwerk/Gewebe
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Position des Selbst
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Das Selbst beurteilt konfligierende Ansprüche nach
dem Standard der gleichwertigen Beachtung (kategorischer Imperativ)
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Das Selbst ist darauf eingestellt, Bedürfnisse wahrzunehmen
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Frage
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"Was ist gerecht?"
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"Wie soll man reagieren?"
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Am Beispiel der Abtreibungsdebatte konkretisiert Gilligan
die Sichtweise der Care-Ethik. Während Fairness-Ethiker die rechtlichen
Ansprüche des Fötus zu ergründen suchen und sie gegen die der Mutter abwägen,
fragen die Care-Ethiker, ob es fürsorglich/leichtsinnig oder verantwortlich
sei, einen Abbruch vorzunehmen. Hier richtet sich die Aufmerksamkeit auf die
Parameter der Verbindung und auf die Kosten einer Trennung.
Gilligan hält fest, dass die Fürsorgeperspektive in den von
Kohlberg durchgeführten Studien nahezu ausschließlich von Frauen eingenommen
wurde und dass diese Perspektive nicht durch einen geringen Bildungsstand
erklärt werden kann - diese Interpretation des geringeren weiblichen Niveaus
bei Gerechtigkeitsurteilen wurde von Kohlberg angeführt. "Bisher war man
der Meinung, daß diese Frauen mit dem Verständnis von >Moral< Probleme
hätten. Indessen kann man auch die Auffassung vertreten, daß diese Frauen die
Problematik einer gerechtigkeitsbestimmten Moraltheorie sichtbar machten."
Weiterhin bemerkt sie, dass Männer und Frauen dazu neigen,
die jeweils nicht eingenommene Perspektive auszublenden. Besonders auf der
männlichen Seite stellt sie ein Ausbleiben der Fürsorgeperspektive fest und
fragt sich, wieso Männer in ihren Antworten die Care-Ethik nicht zum Thema
machten.
Zusammenfassend wünscht sich Gilligan, dass die Fürsorge
nicht nur als ein höchstens ergänzender moralischer Gesichtspunkt, sondern
"als einen Fokus moralischer Aufmerksamkeit" anerkannt wird.
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